3 – Deine Qual ist meine Lust
Pinokio 2 & Minou
18.11.1997
Ich wachte auf meiner kalten Matratze auf. Die Musik war aus. Sowie ich vorm stummgeschalteten Fernseher weggedämmert war, dämmerte ich nun wieder langsam zurück. Im TV sperrten sie in einem Bürgerkrieg Menschen wieder Konzentrationslager. Bei den Leuten hinter Zäunen konnte man die Skelette durch die ausgesaugten Mägen und Gesichter sehen und es wurde von Folter und Massenerschießungen berichtet. Menschen ohne Menschlichkeit. Bei dem Anblick fragte ich mich, wie groß wohl die emotionale Bandbreite von Pinokio war. Ich war mir sicher er hatte Emotionen, aber welche und in welcher Konzentration und ob man sie mit unserem Wortschatz beschreiben konnte, wusste ich nicht. Dachte man darüber nach, war es so fremdartig und nebulös, dass es mir unheimlich wurde. Er hatte einen gewissen Widerwillen für manche Dinge. Er konnte es nicht leiden zu lange unter Menschen zu sein, er konnte es aber auch nicht ertragen, wenn ich ihn alleine im Unterschlupf ließ. Er hatte immer mit einem Stresslevel zu kämpfen und Balance zu halten. Und das fiel ihm schwer. Er war eigentlich dauerhaft verstört und ängstlich und stellte komische Fragen. Was um ihn herum vorging und wer ich bin und er und die ganze Welt. Und ich sollte es ihm alles erklären, als ob ich davon eine Ahnung hätte. Also immerhin einen Willen hatte er, wobei ich aber bei besten Willen nicht verstand wieso man ihm einen solchen geben sollte. Derjenige der ihn programmiert hat… Man gibt auch keiner Fabrikmaschine einen eigenen Willen, wenn sie ihn doch nie erfüllen kann. Wenn sie nur darunter leiden muss, dass er nicht in Erfüllung geht. Warum sollte man ihr auf den Weg geben, etwas anderes zu wollen, als wofür man sie benutzt. Warum eine solche tragische Gestalt ins Leben rufen? Seine Erbauer wussten genau was sie taten, hatte ich den Verdacht, und das widerte mich nur an. Er war kein technologischer Fehlschlag, kein frankensteinsche Kreatur. Er wurde schließlich massenproduziert, verkauft und ausgeliefert.
Aus diesen Gedanken wachte ich langsam auf und machte mir sofort Sorgen um ihn? Ich sah mich um. Im TV verurteilen sie Leute vor Gericht, nachdem sie von der Polizei verprügelt wurde, weil sie einen Atommülltransport stoppen wollten. Der Transport war unter Polizeischutz letztlich erfolgreich, was man als einen Erfolg verbuchte und sich dafür feiern ließ.
„Wo steckst du, Pinokio?“
Er war verschwunden… Ich fühlte mich langsam aber sicher etwas mies und nicht wertgeschätzt von der Blechbüchse. Wo sollte er sich hier verstecken? Es gab schließlich nur ein Zimmer mit drei Möbelstücken. Es war allerdings auch nur durch den Fernseher düster und verrauscht beleuchtet.
„? ! ? ? ! Was? Wieso? Wo? Minou? Pi No Ki O? !”
Ich hörte ein leises Gemurmel. Ich schaltete den Fernseher auf stumm.
„Was? Wo? Wa Wa Wo Wi Wu Wo ? ? ! ! ?!“
„Pinokio!“
Ich erschrak fürchterlich, als ich ihn entdeckte. Er saß direkt unter der Decke auf meinem Schrank und gaffte mich an! „Komm da runter!“. Ich gruselte mich immer mehr vor ihm. So dünn und puppenhaft wie er war, konnte ich aber kaum glauben, dass er mir gegenüber gewalttätig werden konnte. Und selbst wenn? Er war schwächlich, obwohl sein Skelett aus Metall und Scharnieren bestand.
„Was passiert mit mir?“, fragte er mich.
„Was meinst du?“. War das ein kompletter Satz, den er da grade gebildet hatte?
„Ich weiß nichts. Ich weiß gar nichts. Wieso weiß ich nichts?“
„Aber…“
„Wo bin ich? Wer bin ich? Was ist wer, wann, wo?“
„Komm einfach runter, okay?“, er tat mir leid. Wie sagte man: Es hat mir Angst vor dir, als du vor ihm.
„Was passiert? Was passiert? Was pa…“, ich wollte ihm am Bein packten, um ihn herunter zu ziehen, aber er schrak mit einem ängstlichen Winseln zurück. Ich traute meinen Augen nicht, aber Pinokios Haut begann Dampf abzusondern. Oder Rauch? Es stank angekokelten Plastik. Es schoss auch aus seinen Ohren und seinen Nasenlöchern. Ich wedelte mir mit der Hand vorm Gesicht um den Plastikrauch aus meinem Gesicht und meinen brennenden Augen zu bekommen.
„Hör auf damit!“
Er hörte aber nicht auf und der Rauch stapelte sich schwadenweise unter der Decke. Der Unterschlupf hatte keine Fenster. Nur einen kleinen zugestaubten Lüftungsschacht, aber das hatte mich bis zu diesem Moment noch nie gestört. Ich atmete seinen weiß-bläulichen Absonderungen ein. Es stach nicht besonders im Hals und war wohl doch kein Rauch, sondern eher Nebel oder was weiß ich.
„Komm da runter“. Die schwindelerregenden Dämpfe warfen mich beinahe von den Beinen. Ich bekam keine Luft mehr! Plötzlich hörte er auf zu winseln und die Ventile, die in seinem Inneren wohl aufgegangen waren, wurden wieder zugedreht. Er hörte auf zu dampfen und sah mich mit seinen Laborblauen Augen an. Er war auf einmal völlig seelenruhig. Was habe ich getan, was habe ich mit ihm angestellt?
„Komm runter“, meinte ich jetzt ruhiger, beinahe fragend, ob er mir gehorchen würde. Er tat es und sprang in einem Satz herunter und landete in meinen Armen. „Alles in Ordnung“, beruhigte ich ihn. Konkrete Antworten auf seine Fragen wollten mir nicht einfallen. Ich war irgendwie benebelt von Pinokios Absonderungen und erst zwei Minuten danach fiel mir wieder ein, dass er mich mit seinen kühlen Lippen geküsst hatte. Die waren so perfekt synthetisch abgerundet und irgendwelche Unebenheiten und geschmacklos, dass sie mich wohl nicht aus meiner Trance reißen wollten. Er hatte auch nicht mitbekommen, wie er sanft seinen Kopf in meine Arme gelegt hat, mich zur Wand ferngesteuert hat und…
Ich war kurz weg und kam durch einen Knall wieder zu mir. Er klebte noch unbeholfen an mir und hatte dann seinen Kopf via meinen Händen gegen die Wand geschmettert.
Was ging hier vor sich? Ich bekam einen sauberen Atemzug ab und mein Gehirn wurde mit Sauerstoff, statt mit Plastik versorgt.
„Ich will dir nicht weh tun“, jammerte sie ihn an.
„Gut so, mach weiter!“, bettelte er/sie mit dem verstörenden Imitat einer erotischen Stimme an. Er/Sie war schließlich ein Lustmodell wurde Minou grade wieder klar. So hatte sie ihn noch nie sprechen gehört. Die Illusion, dass er menschlich war geriet bei diesem aufgesetzten Programm das er abspielte, etwas ins wanken. Es wirkte künstlich, krächzig und tendenziell defekt. Pinokio rappelte sich wieder auf und legte seinen Kopf wieder in ihre Hände. Die Luft war so dünn, sie hatte sekundenlang nicht richtig geamtet, ohne dass es ihr auffiel. Sie tauchte tiefer in plastische Trance ab.
Sie hatte ein schlechtes Gefühl und wollte es wieder gut machen. Und sie war irgendwie angetörnt. Schlichtweg mehr Intensität, wobei masochistische Lust für sie nichts neues war. Sie stand drauf und es hätte sie nicht weniger interessieren können, was die normale Gesellschaft deswegen von ihr dachte. Der war sie ohnehin NICHTS schuldig! Es gab keine kranken Neigungen außer die Neigung zur Macht und Ausbeutung, meinte sie immer zu sich und normale Bürger die die sexuellen Triebe der Menschen mit Sitte und Zucht und Ordnung einschränken wollten, waren insgeheim sicherlich die kaputtesten Gestalten, die so rumliefen. Aber als sie diese Lust bei Pinokio, eine mit Maschinen Skelett betriebene Plastikpuppe, verspürte kam es ihr doch komisch vor.
„Würg mich!”, forderte sie.
“?”
“Jetzt mach schon!”
Er schüttelte den Kopf und drehte sich weg.
„Ich hab’s für dich getan jetzt musst du‘s auch für mich tun“
Pinokio war wie immer von der Situation überfordert, sah Minou ihm an. Er küsste sie ausweichend. Minou konnte es nur kurz genießen. Sadomaso hatte natürlich was mit Macht zu tun und es ist in der Regel so, dass Menschen die im alltäglichen Leben keine Macht haben, diese dann beim Sex besitzen wollen. Es törnt sie an in der Kiste endlich die Rollen umzudrehen. Bei Minou war es umgekehrt. Sie hatte einen öden Typen nach dem anderen, die nicht anders konnten als sich zu unterwerfen und ihr die ganze Macht zuzuschieben. Und Pinokio war genauso. Er war so hilflos und unterwürfig. Sie wollte dass er die ganze Pseudomacht, die er aufgezwungen hatte wieder zurücknahm und durch seine Hardware spulte und ihr wieder gewalttätig herausgab. Alleine schon, weil er genau für das Gegenteil von seinen Besitzern bestellt worden war, war es subversiv. Sie wollte am liebsten jeden Menschen aus seiner so vertrauten Rolle in der Welt herausreißen und alles auf den Kopf stellen. Viel zu viel war am rechten Platz. Jedem das Seine. Die Dinge gehen ihren Lauf. Man muss sich seinem Schicksal fügen. Alles Lügen, damit sie ihre jämmerliche Täternation und ihr bemitleidenswertes Opfergehabe rechtfertigen konnten.
„Jetzt komm schon“, blockte Minou genervt ab und nahm seine kraftlosen Arme in die Hand und legte sie um ihren Hals. „Drück zu!“
„?“
„Nun mach, ist schon ok, du tust mir nicht weh“
Pinokio drückte zu. Diese Maschine konnte nichts richtig machen und verstand die Hälfte der Zeit nicht mal wo oben und unten war. Aber genau so lange und genau so fest, wie es Minou antörnte, ihr die Luft abzudrücken, bekam er wie ein Meister seines Faches hin. Als er losließ, fiel Minou schwarz vor Augen an seine Brust und er fing sie auf. Sie wäre gerne in der blauschwarzen Traumwelt geblieben, aber ihr Körper schnappte nach Luft. Statt Luft bekam sie größtenteils Pinokios unter der Decke stehenden Plastikdampf ab und konnte kaum geradeaus schauen. Sie kam zu sich, da hatte sie ihre vier Hände in vier Augen von zwei Pinokios, die vor ihr knieten und lustvoll stöhnten. Es wurden drei Pinokios, dann wieder einer.
„Ich will dir nicht weh tun, Pinokio“, sagte sie traurig.
„Ich auch nicht“
„Ok tut mir leid“
„Nein, mach weiter!“, forderte Pinokio. Minou war verwirrt. Er schnappte wieder nach ihren Händen, aber sie zog sie weg.
„Nein, du bist dran! Schlag mich!“
„Nein“
„Nun mach schon!“
„Nein“
„Ich setz dich auf die Straße“, drohte sie ihm. Sie wusste gerade selber nicht genau, ob sie das ernst meinte. Pinokio wollte es nicht riskieren.
Minou sah nur noch Fetzen von Momenten, denen sie sich bewusst wurde. Sie stromte sich beinahe selbst, als sie die Kabel aus ihrer einzigen Lampe im Zimmer gewaltsam herauszog und ihre blutigen Hände beinahe die Kontakte berührten. Der Unterschlupf war nun nur noch von dem flimmernden Fernseher beleuchtet und sie konnte nur noch aus einem Auge sehen. Das andere war zugeschwollen. Sie tat, was Pinokio ihr befahl und setzte die Kontakte an seine Brust. Er bekam einen Schlag, der ihn tief in die Matratze drückte. Er zuckte, fing sich aber bald wieder.
„Nochmal!“
Der Ton am Fernseher war wieder angesprungen und es lief MTV.
I’m a firestarter. Twisted firestarter!
Sie setzte nochmal an. Bevor sie merkte, dass sie ihn berührte, schoss er schon nach hinten.
PZZZT!!
Anti-people now you’ve gone to far, here’s your antichrist superstar
„Nochmal!“
No No – No No – No No
There’s no limit!
“Nochmal!”
Es kam wieder Rauch aus seinen Ohren. Diesmal tatsächlich Rauch und es stank nach überhitztem Getriebe und verschmortem Öl. Minou hatte mal in einer Fabrik für Autoteile gearbeitet. Drei Tage maximal. Das erinnerte sie daran.
Will be destroyed
„Nochmal“
I’m the self inflicted, mine detonator
PZZZT!!!
I’m the one infected twisted animator
PZZZT!!
No No – No No – No No
No No – No No – No No
PZZZT!!
Damit endet die Kolonialherrschaft Großbritanniens. Hongkong wird fortan wieder chinesisch. 1200 Bilder der Queen wurden in Ministerien abgehängt. Es ist ein emotionaler Abgang für den 28. Gouverneur Chris Pa…
PZZZT!!
Der Fernseher ging aus, nun war die Sicherung endlich draußen. Sie zündeten sich eine Kerze an und machten weiter.
Pinokio war wieder an der Reihe und er wusste nicht was das kaputte Gefühl in ihm drinnen erzeugt. Es verletzte ihn Minous kaputtgeschlagenes Gesicht anzusehen. Es war wohl auch etwas in ihm wegen den Stromschlägen durchgebrannt. Er genoss die das kribbelnden und kratzende von Gefühl von Übelkeit. Es half, fand er. Er riss ihr eine ganze Haarsträhne mit Gewalt aus, wie sie ihn darum gebeten hatte.
„Autsch!“
„Tut mir leid tu mir leid tu mir…“
„Geht schon wieder“
„leid tut mir leid tut mir leid tut mir…“, sie hielt ihm den Mund zu. Goynes saß in einer dunklen Ecke und fauchte die beiden an. Sie wollte ihn beruhigen und stand auf.
„Armer Goynes!“
Pinokio hielt sie fest. Er hatte noch einen Wunsch von ihr. Das Gefühl der Elektroschocks war zu gut, als das er jetzt stoppen wollte. Er drückte Minou ein Messer in die Hand, dass er aus ihrer Jacke zog, die neben ihnen am Boden lag.
„Stich zu!“
„Ähhm…“
„Stich zu!“
„Du spinnst doch! Das mach ich nicht“
Er sah sie traurig an. Sie drehte sich weg.
„Ich brauch ne Kippe.“, er hielt sie wieder fest. „Hey warum soll ich dir nicht gleich den Kopf abhacken“
Minou war von der ganzen Nummer müde und zugegebenermaßen befriedigt. Aber Pinokio war nur noch aufgedrehter und hektischer. Er hatte den Sarkasmus in ihrer Absage nicht verstanden, nahm ihre Hand, schlang sie um das Messer und presste es sich an die Kehle.
„HEY…“, schrie sie ihn mitleidig an und wollte die Hand wegziehen.
Er begann schon zu säbeln und zu schneiden und sein Halsplastik wurde von der Klinge hin und her gerissen.
„Hör auf! Das reicht!“
Sie riss sich los und schmiss das Messer weg. Sie nahm ihn in den Arm.
„Ich will dir doch nicht weh tun Pinokio!“
„!“
Sie umarmten sich. Minou war überglücklich ihn zu haben. Sie lagen da und Minou ließ Pinokio von ihrer Zigarette ziehen. Der krisselige Tv beleuchtete harmonische den Unterschlupf und Goynes hörte auf zu fauchen. Aus seinem Eck kam er aber trotzdem mehrere Tage nicht mehr heraus.
Veröffentlicht am 17.04.2022