“You need language for thought, and you need language to anticipate death. There is no abstract thought without language and no anticipation. The anticipation of death without language would be impossible“
David Cronenberg
“Die Welt machte mich zur Hure, nun mache ich sie zum Bordell“ Friedrich Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame
Eine Hommage an Shozin Fukuis 964 Pinocchio (1991)
Pinokio 1 & Minou
31.10.1997 – 22h
Ich drückte mich durch die Menschenmenge in Richtung der U-Bahn-Station. Niemanden fiel auf, dass eine Gestalt regungslos am Straßenrand lag. Schon von der Ferne überkam mich ein unheimliches Gefühl und es wurde mit jedem Schritt stärker. Sie war blass und kahl und hatte eine mechanische Spannung in den Gliedern, als wäre sie nicht bewusstlos, sondern hellwach. Als wäre frontal auf dem Asphalt liegen ihre Entscheidung und ihr fällt nichts Besseres ein, was sie gerade tun könnte. Gerade weil sie so unmenschlich wirkte und nicht wie der übliche Großstadtobdachlose, konnte ich meinen Blick nicht von ihr ablassen. Im Gegensatz zu den abgelebten Säufern und Perversen wirkte sie komplett steril. Als würde sie darüber nachdenken, was sie tun sollte, kam aber zu keinem Ergebnis. Ich sah mich um, niemand bemerkte meinen ratlosen Blick und ich beschloss mich ihr zu nähern. Als ich fast bei der Gestalt am Eingang zu einer dunklen Seitengasse ankam, bemerkte sie mich. Sie drehte den Kopf zu mir und ihre Augen nahmen mich ins Visier. Die Linsen schraubten in den Augen vor und auf und zusammen und erfassten mich. Ich blieb einige Meter vor ihr stehen.
„Alles in Ordnung?“
Sie antwortete nicht, aber ich sah, dass das Gehirn der Puppe ratterte aber zu keinem Ergebnis kam. Gab es eine Krankheit, die so etwas aus einem Menschen macht? Locked-In Syndrom kam der Sache vielleicht am nächsten. Ich wunderte mich, wie dieser humanoide Haufen hierher kam, wer ihn hier zurückgelassen hatte.
„Kannst du mich verstehen?“
„Minou“
„Was?“
„…“
Was sollte das denn bedeuten? Ich fühlte mich immer unbehaglicher und nervöser. Weniger für die Gestalt vor mir auf dem Boden. Für die hatte ich nur Mitleid. Eher lag etwas unheimliches in der Luft. Wirklich in der Luft. Als würde mir mein Innenohr sagen, dass ich nicht auf geradem Boden stehe, und meine Haare stellten sich auf, als würde ich an einer Klippe entlanggehen.
„Soll ich dir helfen?“
„?“
„Komm ich helf‘ dir auf“
„!“
Die Gestalt konnte wohl nur ein Wort und zwei Mimiken von sich geben. Ich half ihr auf, wobei das nicht schwer war. Sie wiegte weniger als ein Mensch mit dieser, zugegeben dürren, Statur. Ich packte sie in meine Jacke. Keine Ahnung, ob ihr kalt war, aber ich wollte ihr einfach irgendwie helfen.
„Bist du verletzt? Bist du krank?“
„?“
„Wo, ähm, wohnst du denn?“
„?“
Ich hatte wohl keine andere Wahl, wenn ich ihn oder sie nicht gerade von der Polizei abholen lassen wollte. Ich sah in das weiße Gesicht. Ich konnte ehrlichgesagt nicht sagen, ob es eine Sie oder ein Er war.
„Ich nehme dich mal mit zu mir, okay? Vielleicht geht’s dir bald besser“
„!“
„Hast du einen Namen?“
„…“, er/sie dachte nach, aber kam auf die Schnelle zu keinem Ergebnis. Ich wartete geduldig, aber da kam nichts.
„Also ich heiße…“
„Minou!“, unterbrach es mich.
„Nein, ich…“
„Minou!“
„Ist das dein Name?“
„?“
„Oder willst du mich so nennen?“
„!“
„…“
„Minou“
„Okay, okay“, das war unser erstes Gespräch. Ich brachte ihn/sie zu meinem Unterschlupf. Ich hatte kein Geld und keine Arbeit also hatte ich mich in einem kleinen Versteck in der U-Bahn eingerichtet. Man musste nur an einem der unwichtigsten und am wenigsten besuchten U-Bahn-Haltestelle aussteigen und dann durch den U-Bahn-Schacht laufen. Man kam dann zu einer verlassenen Station, die nur zur Hälfte gebaut oder renoviert wurde. Dann wurde sie verlassen, die Bauarbeiten abgebrochen. Es gibt dort ein halbfertiges Holzhäuschen, dass einmal als Kiosk dienen sollte. Darin hatte ich mich einquartiert. Ich hatte mir einen Holzoffen reingebastelt und so lebte ich dort schon seit drei oder vier Jahren und hatte es mir ganz nett eingerichtet. Es war der ruhigste Ort der Stadt. Ich war scheinbar die Einzige von den zig Millionen Menschen der Metropole, die davon wusste und so war ich immer ungestört. Auf dem Weg erzählte ich der Gestalt das alles, obwohl ich nicht glaubte, dass sie mich verstand. Ich hatte nie ausprobiert, Besuch dorthin mitzunehmen. Ich wusste nicht wie die Leute auf das Loch reagieren würden, aber ich konnte es mir vorstellen, dachte ich. Er oder sie reagierte überhaupt nicht und akzeptierte es stillschweigend. Meine Jacke hatte die Gestalt aber äußerst liebgewonnen, hatte ich das Gefühl. Sie kuschelte sich hinein, schlang sie um sich, tastete die Taschen ab und wollte sie nicht mehr ausziehen, als wir angekommen waren. Ansonsten sah er sich die Stadt und die Menschen an, als hätte er sie noch nie gesehen. Was mich wohl auch nicht wundern würde. Dabei starrte er den Menschen komplett taktlos ins Gesicht, sodass sie uns nervös auswichen und in den Boden starrten. Er wäre wohl auch auf sie zugelaufen und hätte ihnen ins Gesicht gefasst, wenn ich ihn nicht an der Hand gehalten hätte. Sie hielten ihn wohl alle für einen Nervenkranken oder einen Kriegstraumatisierten und überlegten welche Kriege unser Land in letzter Zeit nochmal so geführt hatte.
Zuhause setzte ich ihn auf meine Matratze am Boden und sah ihn an. Er musterte die Wände und ich hatte das Gefühl, dass ich mechanische Scharniere hören würde, wenn er so seinen Kopf drehte. Goynes merkte sofort, dass etwas faul war, verkroch sich in einem dunklen Eck und fauchte die Gestalt an.
„Bist du ein…“, welches Wort könnte das Ding beschreiben? „Eine Maschine? Ein Roboter? Ein Androide?“ Ich suchte ihn ab, weil ich Antworten haben wollte. Er sah mich nur neugierig und verunsichert an, fragte sich wohl, ob ich etwas tun würde. Aber das hatte ich überhaupt nicht vor.
„Was ist das denn?“ Er hatte eine Spritze im Arm. Es war eine wuchtige Apparatur, eine schwere Eisennadel, um die Spindeln gesponnen waren. Es sah auf den zweiten Blick mehr wie ein Stromstecker aus und ich traute mich auch nicht es anzufassen. Seine Haut war rot und blutig. Als würde sie sich sehr bald entzünden. Wobei es wohl das Beste für seinen Körper war, das Ding abzustoßen. Der Stecker führte von seiner Armbeuge, in der sie mit einer dicken schweren Nadel steckte, an einer Schnur weiter. Ich konnte mich nicht entscheiden, was es sein sollte. Es sah aus wie eine Mischung aus Schlauch und Stromkabel. Es führte in die Hosentasche der Gestalt. Ich zog eine kleine Apparatur heraus, an die der Stromschlauch angeschlossen war. Darauf befanden sich einige leuchtenden Knöpfe, ein Gitter und dahinter ein Lüfter und ein kleiner Bildschirm. Es waren vier Zeilen mit Zahlen untereinander angeordnet.
31/10/1997 – 21:19:14:53
31/10/1997 – 22:50:19:23
10/10/1997 – 21:21:43:53
12/05/2059 – 23:00:19:53
Die zweite Zeile war die aktuelle Uhrzeit. Sie tickte ganz gewöhnlich vorwärts. Auf die Mikrosekunde genau. Bei der ersten Zeile musste ich nachdenken. Das muss in etwa die Zeit gewesen sein, als ich auf die Gestalt gestoßen bin. Vielleicht etwas früher. Wirkliche Rätsel gaben mir die letzten beiden Zeilen auf.
„2029?“
„!“
Das brachte mich auch nicht weiter. Ich versuchte es herauszuziehen, aber es hatte sich festgefressen. Das Ding war beinahe lebendiger als der blasse dürre Kahlkopf, in dem es steckte. Er oder Sie schien dabei Schmerzen zu haben, also ließ ich es.
„Wie soll ich dich nennen?“
„?“
Mir wurde das zu blöd.
„Ich nenn dich einfach Pinokio, wenn du‘s mir nicht sagen willst. Du weißt schon, wie aus dem Film. Die Holzpuppe, die zum Menschen werden will.“
Er wusste natürlich gar nichts.
„Aber wieso sollte man das wollen, ne?“, scherzte ich. Er sah sich in meinem Zimmer um. Ich wusste nicht weiter und es herrschte gewissermaßen unangenehmes Schweigen, auch wenn er wohl nicht viel davon mitbekam, dachte ich mir. Ich legte eine CD auf.
„Die hab‘ ich neu“, freute ich mich demonstrativ. Ich drückte auf Play und es setzte eine verzerrte Synthie-Intro-Melodie ein. Da begann der Song mit voller Power mit der absolut ikonischen breakbeat. „Breathe with me!“, stimmte der Sänger ein und es kam ein punkiges Gitarrenriff dazu. Pinokio bemerkte die Musik mit derselben Begeisterung, als ob er einem Staubsauger zuhören würde. Kann man nix machen. Ich streichelte nochmal den kleinen Goynes, der sich immer noch in der Ecke versteckte, aber immerhin zu fauchen aufgehört hatte. Ich holte eine Konservendose aus dem Kühlschrank, füllte Goynes noch etwas in den Napf und begann dann selber zu essen. Pinokio beobachtete mich.
„Keine Sorge, dass ist kein Katzenfutter“, lachte ich. „Willst du was, das ist die Letzte?“
„?“
Ich zuckte mit den Schultern. Ich glaube ich hatte einen Verdacht was die 2029 zu bedeuten hatte. Einen völlig verrückten Verdacht, aber die verrückte Gestalt auf meiner Couch war nicht wegzuleugnen. Er sah in das dunkle Eck und analysierte Goynes. In seinem Eck konnte man ihn ohnehin nur mit Infrarotaugen sehen. Minou also? Den Namen, den meine Eltern mir gegeben hatten gefiel mir sowieso nicht. Irgendwie mochte ich die Puppe aus der Zukunft.
Veröffentlicht am 17.02.2022
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