10.11.1997 – 17.11.1997

Minou & Pinokio 2

Pinokio hatte sich verändert. Ich konnte mir nicht vorstellen, was in seinem Kopf vorging. Er wirkte so rudimentär und sich selbst trotzdem so bewusst. Seine beiden Gesichtsausdrücke die er beherrschte, wirkten nicht so als hätte ein genialer Wissenschaftler aus der Zukunft sie für ihn designt. Sie waren einfach zu ungeschickt und dumm. Fragend riss er die Augen auf und glotze mich und alle möglichen Passanten an: „?“. Seine Mimik die Zustimmung ausdrücken wollte, war ein schlecht einstudiertes und unkontrolliertes Zwinkern: „!“ Es war so mitleiderregend, es konnte nicht so konstruiert sein. Ihm fehlte wohl etwas, oder er war beschädigt. Als wären gewisse Programme, die sein Verhalten steuerten abgestürzt. Oder menschlich ausgedrückt, war er stumm und dumm und beschränkt, aber er wusste, dass er es mal nicht gewesen war und versuchte sich zu arrangieren, wie jemand, der durch einen Unfall blind wird und der versucht den Verlust mit anderen Sinnen auszugleichen. Das dachte ich mir, bis er letztens verschwand, ich weiß nicht wohin, und wie ausgewechselt wieder zurückkam.

Er kletterte zu Tür herein, erfasste mich kurz, aber setzte sich dann grüblerisch in sein Eck. Überhaupt, dass er mit seiner Körpersprache vermitteln konnte, sich über etwas den Kopf zu zerbrechen, verstörte mich. Ich fragte ihn, wo er war, bekam aber keine Antwort. Ich fragte ihn, ob er sich erinnern kann, was passiert ist, warum er verschwunden ist. Er sagte mir „Nur. Schmerzhaft“. Er hatte mit mir kommuniziert, mit etwas was in groben Zügen ein Satz war. Oder zwei Sätze? Seine Betonung war sehr befremdlich und mechanisch. Trotz der rudimentären Grammatik, hatte er eine komische Lebhaftigkeit in seiner Stimme. Es wollte nicht zusammenpassen.

„Was ist passiert? Geht es dir gut, Pinokio?“

„Minou“

Ich glaube er verstand meine Frage nicht so wirklich. Ich ließ ihn grübeln und immer, wenn ich ihn die folgenden Tage ansprechen wollte, bekam ich nur komische Antworten.

Wo kommst du her?: „Eingeschaltet.“

Kommst du aus der Zukunft?: „2059. Untergrundlabor. Conglomerate. Andere. Wie. Ich.“

Spürst du Schmerzen?: „Ja. Beim. Nachdenken. Darüber.“;

Hast du eine Mission? Wieso November 1997?: „Flucht. Vor. Auslieferung an Kunden. Zufall. Durch. Wurmloch. Mission. Münchhausen-Zeitschleifen“

Ist das eine Zeitmaschine an deinem Arm? Kannst du sie benutzen?: „Münchhausen-Maschine. Geklaut. Kann. Nicht nicht. Benutzen.“

Oder was mich am meisten verstörte, wer hat dich gebaut und warum?: „Lustmodell. Androgyn. Jugendlich. Monsieur è Madame Baton.“

Hier und da stellte er mir Fragen, ob er hierbleiben dürfe oder ob er was zu essen haben könnte. Ich wusste nicht, dass er essen musste, wie sich herausstellte jeden Tag. Ich fragte ihn, wovon er sich die letzten Tage denn ernährt hatte. Er gab mir aber keine Antwort. Ich gruselte mich und fragte mich, was er wohl so anstellte, wenn ich nicht auf ihn aufpasste. Und ich sah nach dem kleinen Goynes, der zum Glück schlafend in meinem Bett lag. Soweit ich das mitbekam schlief Pinokio nicht. Er saß nur in der Ecke und untersuchte mich und den Unterschlupf mit seinem Roboterblick. Ich ging also mit ihm mal in den Supermarkt.

 

Ich versuchte eigentlich nicht mit ihm aufzufallen, aber das stellte sich als schwieriger als gedacht heraus. Sobald wir durch die Tür waren und zwischen den Plastikpackungen standen, schaffte ich es kaum ihn mitzuschleppen. „Pinokio“ wiederholte ich immer wieder und schleifte ihn an der Hand hinter mir her. Ich hoffte er würde irgendwann auf seinen Namen hören. Tiere können das schließlich. Er machte Fortschritte, er lernte dazu. Aber alles war zu bunt und zu aufregend für ihn, als dass er sich konzentrieren hätte können. Durchgehend starrten die Leute uns an, aber niemand traute sich etwas zu sagen. Was hätten sie auch sagen sollen? Nur eine Oma warf uns einen vorwurfsvollen Blick zu, als Pinokio mit seinem Finger in den Salaten herumbohrte. Ich wollte dort möglichst schnell wieder raus, also bliebs bei einigen Flaschen Wein. Eigentlich für mich, aber Pinokio probierte auch und wollte seine Flasche bald nicht mehr abgeben.

„Wirst du eigentlich betrunke? Wirst du nicht nass und bekommst ‘nen Kurzschluss?“, kicherte ich später angetrunken in unserem Unterschlupf.

„Es. Hilft.“

„Das tut’s in der Tat.“

„Ich. Brauche. Kokoschkanonium.“

„Was?“

„Kokoschkanonium.“, sein Humor war noch nicht wirklich entwickelt, dachte ich mir.

„Das ist doch kein Wort“, lachte ich ihn aus.

„Kokoschkanonium“

„Kokaschonium“

„Ko. Kosch. Ka. Nonium“

„Kokain ijum“, äffte ich ihn kichernd nach, er würde es mir schon nicht übel nehmen.

Er fragte mich die Tage über immer wieder danach und wurde immer dringlicher. Ich sagte ihm, dass ich nicht wüßte, was er meint. Er brauchte es wohl zur Wartung seines Roboterkörpers und müsste es alle paar Tage einnehmen, injizieren, auftragen, keine Ahnung. Ansonsten würde er Entzugserscheinungen bekommen. Was die körperlichen Konsequenzen waren, konnte er mir nicht sagen. Er hatte es wohl noch nie so lange abgesetzt. Es wurde ihm immer von seinen ehemaligen Besitzern, verabreicht, erklärte er mir in zwanzig zwei-wort Sätzen. Das ist doch grade ein Grund es abzusetzen, meinte ich zu ihm. Er warf mir nur kaum zusammenhängende Satzbrocken hin. Ich malte mir im Kopf aus, wie ihn das unter Kontrolle halten sollte und seine rebellischen Gedanken aus seinem Uhrwerk-Kopf spült und die Gewinde sauber ätzt, damit er wieder unterwürfig war. Vielleicht war es aber auch nur Frostschutzmittel, ich wusste es nicht. So oder so litt er darunter und ich recherchierte nach Kokoschkanonium. Ich wühlte dafür den PC heraus und ging ins Internet. Ich fand nichts, außer einen gewissen Oskar Kokoschka. Einen Autor und Maler des deutschen Expressionismus am Anfang des 20. Jahrhundert. Seine Werke kennt man heute kaum noch. Vor allem sticht er heraus durch seinen Puppenfetisch. Er ließ sich immer wieder Puppen anfertigen, die bei sich zu Hause rumstehen ließ. Das größte Werk darunter war eine möglichst lebensechte Figur, die er 1918 in Auftrag gab. Sie sollte so ähnlich an seiner verflossenen Liebhaberin Alma Mahler herankommen, wie es nur irgendwie ging. Auch aus erotischen Gründen. Die beauftragte Puppenmacherin experimentierte mit verschiedenen Materialien um dem Gefühl von menschlicher Haut möglichst nahe zu kommen. Sie entscheid sich für eine Mixtur aus Orangenschalen. Als sie die Puppe an Kokoschka lieferte, war dieser maßlos enttäuscht, weil sie so verstörend und hässlich war.

„Endlich, nachdem ich sie hundertmal gezeichnet und gemalt hatte, habe ich mich entschlossen, sie zu vernichten. Die Puppe hatte mir die Leidenschaft gänzlich ausgetrieben. Ich machte also ein großes Champagner-Fest mit Kammermusik, während dessen mein Kammermädchen Hilda die Puppe mit all ihren schönen Kleidern zum letzten Mal vorführte. Als der Morgen graute – ich war wie alle anderen sehr betrunken – habe ich im Garten der Puppe den Kopf abgehackt und eine Flasche Rotwein darüber zerschlagen. Am nächsten Tag schauten ein paar Polizisten zufällig durch das Gartentor, erblickten wie sie meinten den blutüberströmten Körper einer nackten Frau, und stürzten in der Verdächtigung eines Liebesmordes ins Haus hinein. Genau genommen war es das auch, denn an jenem Abend hab‘ ich die Alma ermordet…“ Und ja, es existiert ein Foto von der Puppe. Er ließ sie auch vom Dienstmädchen spazieren fahren und in die Oper und auf Bankette mitnehmen. Später verschwand sie spurlos.

„Reserl selbst war ihrem Dienstherrn, den sie «Rittmeister» nannte, in großer Liebe zugetan und brachte ihm alle nur erdenkliche Hingabe entgegen. Sie ritzte sich sogar seine Initialen mit einem Messer in die Brust. Als Kokoschka Reserls Zuwendung nicht anzunehmen verstand, verschwand sie in den zwanziger Jahren aus Dresden und niemand weiß, was aus ihr geworden ist.“

Ich hatte gefühlt den halben Tag verschwendet mit der Recherche und war kein bisschen schlauer. Von Kokoschkanium allerdings keine Spur. Ich fragte mich nur, warum man diese zu spritzende Flüssigkeit gerade nach diesem Wahnsinnige benennen musste. Ich sagte Pinokio, dass ich glaubte, dass seine Fixe wohl noch nicht erfunden ist. Ich zeigte ihm ein Foto von der Kokoschka-Puppe aber er kapierte es nicht wirklich. Zum Glück war Pinokio um einiges hübscher als die zermatschte Puppe auf dem Bild. Ihn nach zu vielen Gläsern Wein mit einer Axt klein zu schlagen, schien mir abwegig.

Pinokio hatte wieder eine seiner grüblerischen und ruhigen Phasen. Mich gruselte es, wenn ich mir vorstellen wollte, was in seinem Kopf vorging. Ich konnte es nicht. Er war so fremdartig. Er entwickelte seine Grammatik immer weiter. Er begann Sätze mit zwei oder sogar drei Wörter zu bilden. Allerdings waren die Sinnzusammenhänge sehr befremdlich. Eine Zeitlang saß er nur in sich versunken und planlos im Eck murmelte in sich hinein und trank langsam und mit schwachem Zug meinen Wein. Er tat mir leid, aber er konnte nie so fremdartig sein, wie die Menschen seiner Zukunft, die sich Lebewesen wie ihn bauen ließen, um ihn als Sklaven zu halten. Wahrscheinlich für irgendwelche Schweinereien so wie der alte verkorkste Künstler Kokoschka. Er hatte keinerlei sexuelle Ausstrahlung, sondern wirkte auf einen eher wie ein Leukämie-Kranker oder ein traumatisierter im Schützengraben, der nicht mehr ansprechbar war. Irgendwann setzte ich ihm betrunken eine Perücke auf. In meinem betrunkenem Hirn hatte das eine himmelschreiende Ironie, ich weiß auch nicht. Es war eher gruselig und Pinokio wurde an dem Abend immer komischer. Er hörte auf zu reden, hörte aber nicht dem Trance Mix zu, den ich aufgelegt hatte. Er konnte mit Musik nix anfangen. Oder Filmen oder tanzen gehen. Pinokio starrte ins Nirgendwo und gab weder Wärme von sich noch bewegte sich auch nur ein Synthetik-Haar an seinem Körper. Also die Synthetik-Haare der Perücke. Der absurde Fetisch von absurden Menschen der Zukunft. Nichts war heilig, wenn es die Geilheit von extentrischen Priviligierten befriedigte. Ich war bei dem Gedanken richtig angewidert. Und wütend. Er starrte in das neue dunkele Eck meiner Katze Goynes, aus dem sie seit unser neuer Gast hier einegzogen war, nicht mehr herauskommen wollte. Und dann war er weg. Ich nickte kurz weg, schlief für kurze Zeit ziemlich unruhig. Als ich wieder aufwachte, bemerkte ich die komische, kaputte Stimmung im Zimmer. Pinokio war weg. Ich sah mich nur kurz um und konnte nur noch betrunken wieder einschlafen. Wie weit sollte der schon kommen.

Veröffentlicht am 06.03.2022

Bilderquellen:

 

https://www.tagblatt.ch/kultur/die-beruhmteste-puppe-der-geschichte-ld.1078208