Cyberpunk Kurzgeschichte (ca. 35 Seiten)

In der Zukunft ist virtuelle Realität eine für die Massen zugängliche Wirklichkeit. Nach einer fehlerhaften Generation von Neuralchips, kommt es zu einer Epidemie von Millionen Schlaflosen, die ihre letzte Hoffnung auf Schlaf in experimentellen Traumsimulationen suchen. Entgegen dieser Untergrundbewegung steht die Monopolisierung von Firmenkonglomeraten der „Zone“, dem virtuellen Internet der Zukunft. Nachdem ein Journalist bei einer Demonstration seinen eigenen Mord live überträgt, scheint die Ordnung zusammenzubrechen. In diesem Chaos zieht eine Anti-Werbe-Guerillatruppe auf die Jagd nach dem neuesten Prestige-Projekt eines Megakonzerns. Ein Werbebanner im Sternenhimmel, auf dem ganzen Planeten sichtbar.

  1. Krawall

 

Solche Dinge passierten täglich in aller Welt. Aber diesmal war es anders. Es wurde gefilmt. Und mehr als das. Es wurde es sogar im nationalen Fernsehen gesendet. Live und in aller Grausamkeit, zu schnell für die Zensoren. Zu schnell, um eingezogen zu werden und zu verschwinden. Frederick erinnerte das an Bilder von Gaskriegschlachtfeldern der Geschichte und der Gegenwart. Der Journalist, ein internationaler Korrespondent, geriet zwischen die Fronten bei einer der Smogdemos. Die Polizei überschüttete den Demozug mit Tränengas und rückte dann mit aller Gewalt vor. Die Lage wurde schnell hektisch, aber die Smogdemonstranten sind da ziemlich abgehärtet. Haben ja auch schon, wie lange, zwei Jahre Fronterfahrung? Viele der sogenannten Polizisten rückten da auch mit scharfen Gewehren vor. Das Bajonett erfährt eine Renaissance wegen seiner abschreckenden Wirkung. Das Video zeigt, wie ein Kameramann des Korrespondenten-Team zuerst von seinen Kolleginnen getrennt wird. Das Gas erwischt ihn und man hört sein Husten und Ächzen. Er verkriecht sich an einem Hauseingang und ihm ist der Fluchtweg abgeschnitten. Die bunte Masse der Demonstranten wird vom Schwarz der Kampfrüstung der Polizisten ersetzt. Ein Polizist mit Gasmaske erschrickt als er den Kameramann im Hauseingang bemerkt. Er hält die Kamera wohl für eine Schusswaffe. Sofort drückt er ab und man sieht die Salve aus seinem Gewehrlauf blitzen. Die Kamera fällt zu Boden und das Bild wird schwarz. Und das passiert nirgendwo anders als bei uns im Viertel.

Eine Gruppierung verschaffte sich Zugang zu den Werbebildschirmen am Hauptbahnhof, dem zentralen Verkehrsknotenpunkt der Stadt und ließ den Clip seit einigen Tagen in Schleife laufen. Die Autorität ist machtlos oder mit Wichtigerem beschäftigt.

„Das ist schon lustig. Das ist so eine Gruppe wie wir“, sagte Kassandra zu Frederick als sie ihm im zuhause im Wohnkomplex davon berichtet, „Ad-Buster, Culture-Jammer, Anti-Werbe-Guerilla. In unserem Viertel. Aber kennen tun wir sie nicht. Das ist doch absurd. Sie sind ja auch sonst noch nicht durch Aktionen aufgefallen. Dezentralität ist doch war doch was Gutes.“

Kassandra und Frederick, genau wie Remi wohnten im selben Megawohnkomplex in einem der äußeren Industriegürtel der Stadt. Das Viertel war waschecht unter Belagerung. Auf dem Hauptplatz zeigte die Polizei Präsenz. Viel war psychologisch. Sie standen in Reih und Glied und streckten ihre Gewehre mit Bajonetten von sich. Einschüchterung, Terror verbreiten, die Kampfmoral des Feindes zerstören. Psychologische Kriegsführung. Für tatsächliche Kriegsführung benutzten sie eher kleinere Trupps aus einem Dutzend Beamten, die aus dem Nichts in der Nacht auftauchten, sich spezielle Personen griffen und verschwanden. Es traf dann auch immer die Falschen, für uns gesprochen. Gut informiert waren sie. Andererseits trugen sie keine Abzeichen und hatten keine Nummernschilder. Information war die Ressource. Wer sie hat, gewinnt. Gewalt gabs genug, aber sie musste auch treffen. Sie huschten nur durch die Masse von Demonstranten und hofften nicht in die allabendliche Eskalation zu geraten. Stress gab es vor allem in der Nacht. Am Tag hat der Smog die Stadt im Griff und beide Seiten zogen sich zurück und sammelten sich neu. Frederick und Kassandra waren der Kern von SUBvertiZe. Culture-Jamming Aktivisten. Das heißt im Endeffekt das Attackieren der Kultur des Status Quo, oft die Abänderung und Pervertierten von Werbung. Und die Werbung ist exorbitant. Eine der wenige wachsenden Branchen im Zeitalter des beginnenden biodiversen Ökozids. Sie war überall. Im öffentlichen Stadtbild, in der Kultur und der Kunst, in der „Zone“ und bald im Sternenhimmel. Conglomerate Inc. war der größte Firmenzusammenschluss den das Sonnensystem je gesehen hatte und verantwortlich für die mediale Revolution der Neuralchips. Sie hielten alle Patente und mittlerweile das Patent darauf, Patente zu vergeben. Begonnen als staatskapitalistisches pseudokommunistisches Projekt am anderen Ende der Welt hatte es die nationalen Grenzen seiner Urhebernation gesprengt und alle anderen Grenzen der Welt überrannt bzw. wurde willkommen geheißen, je nachdem wen man fragte. Viele kleine Stiefellecker haben sich eingekauft und sind Teil des Megakonzerns von Onlineversand über Energieproduktion, Waffenschieberei und internationaler Tierschlachterei. Die totale Fokussierung des Kapitals von unten nach oben im Pyramidenstil.

Über ein Sattelitennetz wollten sie heute Nacht die erste Werbung ihrer Art starten. Heute Nacht waren sie zu dritt. Ansonsten war der Kreis um SUBvertiZe größer. Manche kannte Frederick, manche nicht. Kassandra stürmte voran, sie wollten uns in der Altstadt mit einem Kontakt treffen, der uns mit den Satelliten helfen konnte. Die U-Bahn war kein Thema, weil totalüberwacht. Auch alles mit Nummernschild fiel weg. Also hatten sie einen langen Marsch vor sich. Oft warteten sie an Straßenecken und ließen Polizeitrupps vorbeiziehen. Frederick tat das alles für Remi. Ihre Ausflüge in die Zone wurden immer verzweifelter und sinnloser.

Das Scheppern der Gasgranaten verschwand langsam hinter uns und totenstille brach über die Straßenschluchten herein. Für Frederick schlug die Ruhe schnell von Entspannung zu Nervosität um.

„Findet ihr nicht es ist hier etwas zu ruhig?“, fragte er in die Runde.

„Wann warst du denn zum letzten Mal im Ostkiez sag mal“, fragte Kassandra irritiert. „Ja, ist hier seit ner Weile so“, meinte Vellocet. Es war seine Heimat, wobei er aber bestenfalls bei irgendwem auf der Couch schlief und schlechtestenfalls in irgendwelchen verseuchten Löchern und Leerständen. Frederick gaffte sie unwissend an.

„Na die Schlaflosen. Die Melatoninjunkies. Die Lochköpfe“

„Achso. Dich hats aber nicht erwischt oder Vellocet?“

„Nicht damit zum Glück. Aber die ausgebrannten Drogenpotenzierer Implantate sind auch nicht grade angenehm“

„Sowas hast du dir einbauen lassen? Bist du blöd Alter!“, lachte Kassandra.

„Wieso blöd? Die lohnen sich. Ich habe schon das fünfte Opiumimplantat. Wirkung ist da zehnmal so intensiv“

„Wo bekommt man denn bitte Opium?“

„Seit den neuen Implantatgeneration überall“, grinste Vellocet.

„Sag mal nimmste noch das eine Zeug da? Die Designerdroge, bei der du bei um fünf Uhr morgens bei mir sturmgeklingelt hast, um mir davon vorzuschwärmen“, lachte Frederick. Drogenjunkies waren auch nicht mehr dasselbe seitdem es die intelligenten Entzugs-Subkutan-Implantate gab. Zwei Wochen auf zehnfachem Rohopium, zwei Wochen clean auf Entzugs-Cocktail und am Pizzas ausliefern und Fahrräder klauen der Typ.

„Vellocet-12! Woher glaubst du, dass ich meinen Namen habe?“, lachte er, wird aber schnell wieder ernst. „Gibt’s aber nicht mehr das gute alte 12er. Das 15er war auch noch ok, aber leider alles schrott der Rest“

„Wie das gibt’s nicht mehr?“, fragte Kassandra schockiert. Sie hatte wohl auch schon Bekanntschaft mit der legendären Droge, die eine ganze Subkultur erschaffen hat, gemacht.

„Doch, die gibt’s schon noch. Kostet nur halt das 300-fache, Inflation gar nicht miteingerechnet.“

„Hä. wie denn das?“, fragte Frederick

„Das findest du schon noch raus“, lachte Vellocet ihn kurz und knapp an und sprintete los. Er rannte die Straße runter. Das war schon immer ein ärmeres Eck, aber die Straße sah aus, als wäre hier schon der Krawall, der die ganze Stadt in Atem hielt, durchgezogen. Alles zugesprüht. Überwachskameras baumelten in den Fassungen, demolierte Autos. Als sie mit ihm aufholten hatte er schon die Spraydose rausgeholt. Es war ein Plakat für diese Kaugummi-Dinger.

Fishman’s Friend: SIND SIE ZU STARK REICH, BIST DU ZU SCHWACH ARM, Ein Conglomerate Produkt

„Na was meint ihr?“

„Eigentlich ganz lustig“

„Weiter jetzt!“, meinte Kassandra professionell. Sie marschierte voran. Vellocet kam immer mehr in Partylaune. Sie kamen an einer kleinen Tankstelle vorbei, die noch offen hatte.

„Hey Leute, lass mal Nachschub holen!“, meinte Vellocet.

„Was für Nachschub denn?“, aber er war schon verschwunden.

„Ist wohl nicht seine erste Halbe heute?“. Irgendwie war Frederick wenig zu Lachen zumute.

Vellocet ging hinein, ignorierte den Kassierer und ging schnurstracks zu den Kühlschränken.

„Boah was ne ätzende Mukke hier! Weihnachtslieder? Kuck mal aufn Kalender Alter, wir haben Oktober, ähm… November“

Er spurte aggressiv auf ihn zu. Das Zeug ballerte mal wieder gut. Mit paar Stunden Verspätung. Das Subkutanimplantat für Speed war alt und nicht mehr das Beste. Er hob es sich für besondere Nächte auf. Wie heute. Den Flattermann grade musste er kontern. Alkohol und Zigaretten tun den Job.

„Wieso, Mann? Wieso beschissene Weihnachtsmusik im Oktober, ähh November. I’m dreaming of a white christmas“, schluchzte er. „Hab mein scheiß Lebtag noch keinen weißen Schnee gesehen. Also naja du weißt schon…“, kicherte er aber stockte dann. Der Kassierer starrte ihn mit leeren Augen an. Der Typ war noch ziemlich jung. Jünger als er sogar, vermutete Vellocet.

„Jemand zu Hause?“. Vellocet zog eine bittere Rotzglocke hoch. Der Junge hinter der Kasse reagierte nicht.

„Jemand zu Hause?!“. Vellocet klopfte ihm hart auf die Stirn.

„900 000 Mark“

„Marlboro Rot noch“

„Was?“

„!“

Er klopfte ihm wieder auf die Stirn. Den Kassierer schien das kaum zu irritieren. Stattdessen holte es ihn wieder in die Realität zurück. Bei seinem Kopf muss man halt bisschen nachklopfen, bis die Gedanken weiterfließen, dachte sich Vellocet selbstzufrieden.

„2 Millionen glatt“

„Hab ich passend“, er klatschte ihm zwei Scheine hin.

„Vellocet?“, fragte der Kassierer.

„?“, kuckte er ratlos.

„Haben Sie Vellocet-12“

„Ne!“. Der war gar nicht druff. Das war einer von den Schlaflosen. Na klar, Tränensäcke, tiefrote Augen, ganz alte, kränkliche Ausstrahlung. Der war wahrscheinlich 18 aber sah aus wie Ende 30.

„Dich hat’s hart erwischt, oder? Biste schon dement, ja? Wie lang biste wach, sag?“

„Weiß nicht. Monate?“

„Du musst mal wieder pennen“

„Geht nicht ohne Vellocet-12“

„Mit dem Drecksjob wird das nichts“

„Nein“

Plötzlich quietschte und krachte es draußen fürchterlich. Kassandra schimpfte die ganze Straße nieder. Vellocet nickte nochmal dem Kassierer zu, der sich noch kurz fragte, ob er denn bezahlt hatte, und stürmte raus.

 

  1. Eintauchen

 

Unser Wohnloch ist weder im Stadtzentrum noch außerhalb. Die Stadt ist so überbevölkert, dass sie auseinandergefallen ist. Man kommt nicht mehr aus seinem viertel heraus. Die Miete ist hier sowieso genauso grauenhaft wie sonst wo. In unserem Wohnblock wohnten, damals als er vor über hundert Jahren gebaut wurde rund 100 kleine Familien auf 10 Stockwerken. Heute sind es ungefähr zwanzig Mal so viele Menschen, nachdem man die Wohnung immer wieder in kleinere Unter-Wohneinheiten aufgeteilt hat. Auch die Wände wurden dünner. Zuerst solider Backstein, weiter drinnen dünner Beton, mittlerweile nur noch Gips oder, wie bei uns, dünne einfache Holzbretter. Wer außen wohnt hat mit der Kälte zu kämpfen. Weiter drinnen ist die Luft fürchterlich feucht und warm und stickig. Wir sind zum Glück fürs erste eher nahe der Außenmauer. Das zentrale Wohnkollektiv des Wohnblocks hat aber vor Kurzem ein Rotationssystem eingeführt, um schweren Insomnia-Fällen schallisolierte Schlafkojen zuzuteilen. Frederick und ich haben dafür gestimmt. Wenns mit mir schlimmer wird, dürfen wir bald auch rotieren. Aber vorerst… Die dünnen Wände und die fatale Schlaflosigkeit haben mich ziemlich kleinlaut gemacht, meint Frederick und Recht hat er. Der kennt mich gut, wie sonst niemand. Privat unterhalten kann man sich nur wenn man den Fernseher oder Musik an hat. Gut, dass wir nach jahrelanger Beziehung eh schon alles übereinander wissen. In den kleinen Würfelapartments im Extrovertierten-Flügel, wie Frederik das nennt, gibt’s ohnehin keine Geheimnisse. Der ganze Block hat immer einen Grundpegel an Lärm, den das Gehirn aber schnell ausblendet. Die Lust an Musik habe ich aber trotzdem verloren. Die Glühbirne ist rausgedreht. Der tote Kanal des uralten Röhrenfernsehers beleuchtet die Box, die zwei auf zwei auf zwei Meter Wohnkoje, die Frederick und ich unser zuhause nennen. Bei kühlem Kerzenlicht stecke ich die Technik ein. Mehr als zwei, drei Kerzen sollte man nicht anmachen, sonst wird es stickig. Anstopseln ist schon ziemlich unschön. Das Kabel muss 4 Zentimeter ins Nasenloch. Dabei nicht mit Tränen in den Augen zu würgen ist unmöglich. Viele scheitern schon daran sich den Nies-Reflex abzugewöhnen. Das Ende des Kabels ist intelligent genug sich an die eingepflanzte Kontaktestelle anzudocken. Manche lassen sich da einen eleganten in den Nacken oder hinters Ohr stechen. Schön versteckt.

Bei Schlaflosigkeit fängt man an zu gähnen. Irgendwann kann man nicht mehr damit aufhören. Die Konzentration lässt nach. Man fühlt sich angesoffen. Man bekommt Augenringe. Man wird reizbar und pessimistisch. Es wird schnell zur Qual. Wenn man doch nur eine Nacht durchschlafen könnte. Oder eine Stunde oder irgendwas. Es wird wie jedes andere unbefriedigte Bedürfnis zum Gedankenknast. Irgendwann bekommt man Gedächtnislücken, im fortgeschrittenen Stadium Alzheimer. Man beginnt zu Halluzinieren. Man ist desorientiert und versinkt unangekündigt in Sekundenschlaf. Panikattacken, Paranoia, Phobien. Der Thalamus verkümmert, wird löchrig, daher auch der Name Lochköpfe. Auch ein Kampfbegriff, aber wenn man so am Limit lebt, stört man sich auch nicht mehr an dieser Diskriminierung. Es kann Wochen bis Monate dauern, aber letztlich stirbt man. Die Epidemie von fataler Insomnia hat eine ganze Generation erfasst. Tausende sind schon gestorben, hunderttausende werden noch kommen.

Eine Heilung gibt es nicht. Auch nicht für mich. Ich bin ja schon neidisch auf Frederik mit seinem Gewinnerlos aus der Regierungslotterie. Der Zugang zu Heilung, zum chirurgischen Eingriff zum Entfernen des Zonensubkutanchips der neunten Generation. Was für ein progressives Regierungsprogramm! Vom sozialen Netz der alten Tage ist nur noch ein zynischer bitterer Nachgeschmack übrig. Für den InsomniaCs-Raum braucht man einen Chip der zwölften Generation oder höher. Zum Glück werden die einem nachgeschmissen, seitdem Conglomerate aggresiv die 13. Generation vermarkten will. Schnelllebige Technik und auch bei der zwöften konnte Conglomerate noch nicht glaubhaft versichern, dass die Probleme der Neunten, die die Epidemie ausgelöst haben, restlos ausgemerzt sind. Ein Freund von Vellocet hat mir den umsonst in die Nase gedreht. Hat man einmal den Neuralzugangsstanzer dafür, kann man den eine Millionen Mal benutzen ohne, dass er abnutzt oder rostet. Ich starre auf die ausgeschaltete Röhrenglotze. Manchmal schäm ich schon dafür, dass Frederik und meine Wohnung nur mit zusammengeklautem uraltem Schrott eingerichtet ist. Wenigstens sind die Fenster gut und schützen vorm Smog. Nichts passiert.

„Das kommt ganz langsam, wie’n Acidtrip. Du musst nicht mal Enter drücken“, meinte Vellocets Kumpel (ein anderer), der mir die InsomniaCs Software verkauft hat. Hab ich noch nie genommen. Das Nasenkabel führt in meinen Laptop. InsomniaCs schnurrt im Laufwerk. Wer benutzt eigentlich noch CDs, wundere ich mich, aber ist wohl am Schwarzmarkt nicht so ausgestorben wie sonst wo. Lässt sich wohl gut analog und per Handschlag handeln. Ich war mir vorher gar nicht sicher, ob unser Computer noch ein Laufwerk hatte, aber ja. Eine schwarzbeschichtete CD-ROM, das musste doch irgendein komischer Retroschick sein. Die waren sogar in der Softwaredealer-Szene omnipräsent, oder wie? Nichts passiert, der Computer sagt, alles auf GO, wüsste nicht was ich noch tun könnte. Ich habe gerade zwei Wochen auf der fatalen Insomnia-Uhr, aber ich bin schon jetzt ein Wrack. Die Chipgeneration hat irgendwas im Gehirn blockiert und mehr als Sekundenschlaf ist nicht mehr möglich. Ich dachte ja schon mich erwischt es nicht. Mein Chip ist okay, aber denkste. Ich sehe Lichtblitze aus der Küche und weiß nicht, woher das kommt. Schon absurd auf Halluzinationen zu warten, während man Halluzinationen hat.

„Das ist der neue heiße Scheiß, sag ich dir, Remi“

„So richtig Virtual Reality?“

„Naja also je nachdem. Alles passiert in deinem Kopf. Die Hardware verpasst dir nen ordentlich neurologischen Cocktail, die ganze Palette von Sinneseindrücken. Die ‚Realität‘ wird blockiert. Die Software sortiert die Inhalte, die die alte Realität ersetzen. Trotzdem ist man mit anderen Benutzern vernetzt, die zur selben Zeit eingesteckt sind. Das ist cutting-edge Technologie sag ich dir. Alles für ein Taschengeld von 250 Millionen Mark“

„Klaro“, und gab ihm unauffällig ein kleines Bündel Scheine. Die Erinnerung ist seltsam intensiv und lebhaft. Ich kann die leicht angebrannte Luft vom Rande des Industriegebiets förmlich riechen. Die, vom Nieselregen der Nacht, nassen Klamotten klebten mir schwer auf der Haut. Da schreckte ich hoch. Ich saß wieder mit einem Stechen in der Nase auf meinem Bett. Es geht los! Das ist es, ich drifte ab.

„Versuch gar nicht dich zu wehren. Geht sowieso kaum. Gab aber auch schon welche, die Panik bekommen und die Software abstoßen. Das ist weder für die Software noch für die Platform gut. Also deinen Kopf“, hatte er sich eins gegrinst.

Alles gut. Ich wehre mich nicht. Ich greife nochmal hoch, unsere Wohnkoje funktioniert ja eher in der Vertikalen, und hole die Kippen. Meine letzten Freunde gegen die endlose Hibbeligkeit der fatalen Insomnia. Als ich mich wieder herabhieve ist das Zimmer ein anderes. Die Kerzen neben dem Bett! Ich dachte ich zünde mir die Zigarette damit an, aber das Licht zerfällt und splittert dahinter auf die Wand, die mit unserem ganzen Hausstand zugestellt ist. Töpfe, Lappen, Kleiderbügel, Glotze, Ventilator, Wasserkocher, Mikrowelle, leere Nudelboxen, Stromverteiler, Kabelgewirr. Das Licht verfängt sich in den kleingliedrigen Chaos und bricht auseinander. Die Strahlen werden vor meinen Augen zu kleinen Kreisen. Die Kreise staffieren sich aus, zerplatzen in kleine Hieroglyphen. Werden zu Schrift, ein Neonschild mit tiefen, satten Buchstaben: InsomniaCs

Der Sarg wird zum geräumigen Kaffeehaus, die Klaustrophobie verschwindet. Wenn man so lange in einem Sarg wohnt, wird Agoraphobie, die Angst vor offenen Flächen, das schlimmere Problem. Ich spüre den Reflex mich an etwas festzuhalten. Mein Herz pocht. Jetzt nur keine Panik bekommen! Das kratzende Stechen in der Nase ist verflogen und ich weiß ich bin jetzt in der Zone. Durchgebrochen zur anderen Seite.

 

  1. Lochköpfe

 

Vellocet rannte hinaus. Kassandra war stinksauer. Ein Auto war mitten in die Tankstelle gerast und hätte sie beinahe umgemäht. Frederick versuchte noch Kassandra zu stoppen, aber sie zog den Typen aus dem Auto. Der sah total verwirrt und kaputt drein. Die Sache war klar. Ein fataler Schlafloser. Kassandra checkte es sofort.

„Noch son Lochkopf… Du hättest mich fast über den Haufen gefahren!“

„Das ist aber nicht nett“

„Was, Alter!?“, mehr Drohung als Frage.

„Mich einen Lochkopf nennen“

„Ist dein Thalamus nicht durchlöchert vom großen Bug?“

„Doch“

„Ich lass dir gleich die Luft raus!“

„Hey warte mal ich kenn dich doch“, schaltete sich Vellocet ein. Der Typ, von Kassandra noch immer am Kragen gepackt und gegen sein Auto gepresst. Er kuckte planlos drein.

„Du bist doch Flattermann! Kennste mich nicht mehr? Die alten Tage mit den ersten Subkutanchips. Na, sag an, wie viel haste mittlerweile?“, lachte Vellocet.

„Ähm?“, glotzte er ihn leer an.

„Vellocet-12, wa? Das war ne heiße Zeit, oder? Ich hab heut noch Restless-Leg-Syndrom davon. Und paar Zähne fehlen.“, versuchte er es nochmal. Da blitze kurz was in seinen Augen. Schnell war es wieder verflogen.

„Danke für den Regenschirm, ich muss dann mal weiter, sonst komm ich zu spät zur Arbeit. Heute spielt immerhin der FC“, meinte er dämlich höflich und versuchte sich an Kassandra verbeizudrücken.

„Hey laber mich doch nicht voll!“, fauchte ihn Kassandra an

„Es hat ewig nicht geregnet und es ist kurz nach Mitternacht“, versuchte Frederick diplomatisch zu erklären

„Der ist dement. Passiert dir auch noch Vellocet, wenn du’s nicht gut sein lässt mit der Chipperei“, sagte Kassandra.

„Ja. Dement“, sagte Vellocet ernsthaft schockiert. Man erlebte ihn nicht oft von der schwachen Seite.

„Ich würde erstmal das Auto versuchen zu löschen, oder?“, meinte Frederick zum Lochkopf.

„Oh Mann, was ist da denn passiert? Ruft mal einer irgendeine Feuerwehr! Mein Dad bringt mich um“

„Hab kein Handy bei“

„Ich auch nicht“

„Auch nicht. Und dein Vater ist schon lange tot Flattermann, du Vogel!“

„Hört ihr das?“, meinte Kassandra.

„Da kuckt! Blaulicht!“

Es kamen zwei Polizeiwannen um die Ecke. Nur in Schrittgeschwindigkeit. Sie ahnten schon wieso. Kassandra übernahm schnell wieder die Führung und wollte Frederick und Vellocet in die nächstbeste Gasse schleppen. Man hörte die Stiefel langsam lauter werden. Als sie sich nach ihrem Sprint in die stockdunklen Gassen wiederfanden, war Vellocet weg. Stinkt ja fürchterlich nach Müll hier, dachte sich Frederick. Hier kam wohl ne Weile keine Müllabfuhr mehr rum. Die Säcke stapelten sich.

„Wo zum Teufel ist er?“, fragte Kassandra.

„Wer?“

„Vellocet! Alter, hörst du mir überhaupt zu?“. Scheinbar nicht. Obwohl er endlich wieder schlafen konnte, nachdem er den chirurgischen Eingriff in der Staatslotterie gewonnen hatte. Schäden waren trotzdem geblieben von seiner Zeit. Die konnte man gar nicht genau festlegen, weil sie immer wieder von Sekundenschlaf unterbrochen wurde. Nicht, dass das irgendeine Hilfe gewesen wäre. Manche sehen das ja sehr zynisch mit er Staatslotterie für den Eingriff zum Entfernen des verbuggten Lochkopf-Chips. Und stimmt auch irgendwo. Aber im Prinzip war das ein progressives Programm der Regierung. Wann kommt das schon nochmal vor, oder? In der Nacht krachte und krachte es wieder im eiskalten starren Rhythmus. Es war ein markerschütternder fürchterlicher Eindruck. Klaustrophobisch unter der Smogdecke und ohne Ausweg. Das akustische Äquivalent von chinesischer Wasserfolter und Jochbeinbrüchen.

„Ey Lochkopf!“, klopfte Kassandra Frederick hart und lautstark auf die Stirn. Seine Konzentration war irreparabel nicht mehr die beste. Sie lugten vorsichtig aus der Gasse hervor. Vellocet half seinem alten dementen Kumpel aus Junkietagen, also aus alten Junkietagen, nicht den neuen, beim Auto löschen. Es klappte nicht, sie versuchten verzweifelt mit Vellocet schwerer nietenbedeckter Lederjacke die kleine Flamme aus dem Motorblock zu löschen. Vellocet wollte Flattermann zur Flucht zu bequatschen. Kassandra tippte Frederick auf die Schulter. Sie sah in die andere Richtung aus der Gasse, in Richtung Bullenstress. Da waren sie die Neo-SA marschierte wieder. Hunderte oder Tausende davon im mechanischen Stechschritt. In der Nacht reflektierten ihre brauenen Uniformen in schwarzem neonblau, sie hatten sogar die authentischen hohen Schaftmützen. Das Polizeiaufgebot war läppisch dagegen, eher eine kleine Eskorte, aber mehr hatten die auch nicht zur Verfügung. Firmensicherheitstrupps legten sich so gut wie nie mit der Neo-SA an, wenn sie nicht zu lange in ihren Exklavenvierteln rumlungerten. Aber die marschierten ja immer nur um Präsenz zu zeigen. Niemand legte sich mit denen an ehrlichgesagt. Niemand wusste eigentlich genau was sie wollten. Die Regierung zu putschen schien irgendwie redundant. Niemand wollte die Handvoll staatbankrotten Büros im Verfall. An Macht gabs da nicht viel zu holen beim Staatsapparat. Aber sie griffen auch nicht die Monopole an. Sie kloppten sich ab und zu mit Ausländern, ziemlich grob sogar, aber irgendwie war das mehr die Hugo Boss Uniformen spazieren tragen.

„Ist doch alles Fasching“, meinte Kassandra kühl.

„Ich weiß nicht, ich finde die schon gruslig. Hör dir mal den Krach von den Stiefeln an“

„Ach die haben Metall in den Sohlen, damit das lauter klingt“

„Nen Kollegen von mir haben die mal…“

Frederick wurde von einer Explosion abgeschnitten. Die Tankstelle und Flattermanns Auto. Es brach die Hölle los. Die Neo-SA stürmte auf gut Glück los. Nur wegen dem Schreck und überrannten die Cops. Von Vellocet war keine Spur. Flattermanns Leiche krachte brennend auf die Straße.

„KOMMUNISTEN!“ rief einer der Neo-SAler. Auf den Häuserdächern tauchten dutzende schwarze Silhouetten auf und feuerten mit Zwillen, Molotow-Cocktails, Pflastersteinen und irgendwas zwischen Polenböllern und Rohrbomben. Wir mussten hier raus.

 

  1. Auf Lunge

 

Ich beginne mich schnell zu fangen. Es hat etwas ganz Subtiles. So wie ich mich an die ans Einschlafen erinnere. Wie man langsame in irrationale Gedanken abdriftet oder aus irrealen Träumen auftaucht und erstmal nicht weiß was wirklich ist. Und wie man immer erstmal überrascht ist zu entdecken, dass die Welt, aus der man gerade kommt, nur ein Traum ist. So fühlt sich das an. Nicht das ich die Schlafkoje im Block für weniger real halten würde. Aber halte ich die Zone für als weniger real? Das basiert halt auf Einsen und Nullen und nicht auf Atomen und Subatomen und was weiß ich. Ich liege auf einer zigmal gemütlicheren Matte als zuvor. Alleine dafür lohnt sich schon die Software. Es hat was ganz Uriges und Gemütliches, wie man es nur aus Filmen kennt. Mehr eine Opiumhöhle als ein urbanes Café der ersten Welt.

„Sie können sich ruhig aufsitzen, wenn sie wollen“, spricht mich ein schick gekleideter Ober an. Ich bin skeptisch. „Das Programm schüttet die nötigen Chemikalien aus, um ihren Körper außerhalb der Zone zu paralysieren“, meint er.

„Ich beginne nicht draußen rumzuzappeln, ja?“

„Nicht mehr als während eines mittelmäßig intensiven Traums“

Ich hocke mich auf. Hier wird vor allem auf Kerzen und Öllampen gesetzt. Die ganze Inneneinrichtung ist aus Holz. Man kann es riechen. Schon Wahnsinn wie realistisch die Dinger sind, denke ich mir.

„Sie sollten aufhören über außerhalb nachzudenken. Einfach loslassen“, meint der Ober freundlich. Kann der meine Gedanken lesen, oder was? Aber ich gehorche.

„Ich habe hier auch was für sie. Genau für diesen Zweck und genau für sie gemacht“. Er reicht mir eine Pfeife. Ebenfalls aus Holz und als ob sie handgeschnitzt und ein Familienerbstück wäre.

„Was soll das denn?“

„Rauchen sie das, um zu beginnen“

Ich sehe mich um. Es sind noch andere Leute auf Matten und in Stockbetten verteilt. Alle sind komplett ruhig und mit sich selbst beschäftigt. Manche davon haben auch eine Pfeife. Manche trinken vor sich an, andere hantieren mit Nadeln, manche halten nur Fotos über sich oder andere persönliche Gegenstände und starren sie an. Viel kann ich in der Dunkelheit nicht erkennen.

„Sie haben eine Vergangenheit mit Drogenkonsum via Pfeifen, stimmts?“

„Ähm…“

Ich frage nicht, woher er das weiß, und füge mich. Im Pfeifenkopf ist ein weißes Pulver. Das erinnert mich an ausgestorbenen Drogen und eine längst vergangene Jugend. Ich zünde das Rohr an.

„Ich bringe ihnen noch einen Tee. Schwarz, Grün, Earl Grey, …?“

„Ja“, bin ich sofort kurz angebunden. Von wegen symbolisch. Das pfeffert rein wie Sau. Das habe ich ewig nicht gefühlt. Genau dieses Gefühl. Da hab ich noch bei den Eltern gewohnt. Perfekt getroffen haben die das! Das kann doch nicht legal sein. Und auch viel zu gut für den Rest, den gutbürgerlichen normalen Markt. Ich sehe mich um. Bei vielen fährt das wohl genauso gut, wie prall die auf ihren Matten liegen. Es gibt auch ein paar richtige Tische. So richtig mit Stühlen zum aufrecht dran sitzen, wie ein normaler Mensch. Nix für mich ehrlichgesagt. Ich bin nur noch ein Haufen von orgasmischer Ekstase. An jedem Tisch sitzt nur einer. Nur eine Gruppe aus drei Leute gibt es, die schweigend Karten spielen. Die sitzen tatsächlich mit kleinen Kaffeetassen da, was mir doch kontraproduktiv vorkommt. Der Ober kam mit meinem Tee.

„Bitte sehr“

„Entschuldigung, was trinken die da drüben?“

„Kaffee. Das sind die Stammgäste. Auch alle fatal schlaflose wie Sie. Allerdings sieht deren Fall nicht sehr hoffnungsvoll aus. Alle Erlebnisse und Erfahrungen und Erinnerungen, die wir für sie vorbeireitet haben konnten die Krankheit nicht besiegen. Sie haben kapituliert, verbringen aber dennoch gerne ihre Zeit hier. Die Herren suchen noch nach einem Mitspieler für ihre Runde, darf ich Sie empfehlen“

„Lieber nicht. Ich bin hier gut beschäftigt“

Er nickt und geht. Mir ist immer weniger nach Bewegung. Meine Glieder sind so herrlich betäubt und gefühllos. Schwer wie Blei. Mein ganzer Körper sinkt in die unendlich gemütliche Matte unter mir. Es liegt ein wunderbarer Duft in der Luft. Nichts vom abgestandenen Schweiß und Fast-Food Mock aus der realen Welt. Und die Stille!

„Ihren Tee nicht vergessen. Und Sie müssen loslassen. Es gibt jetzt nur noch die Zone“, flüstert mir der Ober im Vorbeigehen zu. Ok! Ich nahm einen kräftigen Schluck vom Tee. So schmeckt Tee? Ich hatte seit meiner Kindheit keinen getrunken. Viel zu süß. Die Happy-Meal-Variante von Earl Grey Tee, so kommt mir das vor. Komisch. Plötzlich, ich hatte ihn nicht kommen sehen, da steht einer der Kartler über mir und kniet sich runter.

„Du bist neu, oder? Willst ne Runde mitspielen“

„Ach ne lass mal“

„Ist ok“

Grade schwappt da eine harte Welle an Betäubung über mich. Was war denn in dem Pseudotee drinnen? Die anderen Gäste sind auf ihren Betten aufgereiht und pusten als wären sie eine Maschine, eine Orgel, immer wieder den Dampf ihrer Pfeifen in die Luft. Es ist unglaublich beruhigend. Einer der Kaffeetrinker verschüttet mit zittrigen Händen seine Kaffee, aber ist zu abgeschlafft um sich drüber aufregen. Der Ober hilft ihm ohne Kommentar beim Aufwischen. Langsam kommt ein warmes Gefühl über mich, ein ganz selten gewordenes Gefühl. Ich werde müde, wobei müde bin ich immer. Vielmehr werde ich schläfrig. Ich bemerke die Gehirnaussetzer kurz vorm Wegtreten. Ich pumpe allerdings deswegen solche Glücksgefühle, dass es mich wieder hochreißt. Ich nehme noch einen Schluck vom Körpertemperatur-Tee.

„Das wird schon“, steht der Ober wieder wissend über mir und reicht mir eine Zigarette. Wie kann der mir allein eigentlich so viel Aufmerksamkeit widmen bei den an die dreißig Gästen, die im InsomniaCs einkehren?

„Das hoffe ich wirklich für sie“; fährt er fort. „Wir wissen nicht, wie lange es diese letzte Zuflucht für das Millionenheer der Schlaflosen noch gibt. Conglomerate Inc. stört uns immer mehr mit den Übergriffen ihrer Werbeagenten“

„Agenten?“

„Ich befürchte die werden sie noch früh genug treffen. Ich lasse sie nun besser wieder in Ruhe“

Ich nicke und zieh aggressiv auf Lunge.

 

  1. Fatal

 

„Komm, lass den da drüben abruppen!“, sagte Kassandra und packt Frederick an der Schulter.

„Was denn, jetzt? In dem ganzen Chaos?“ Es war die komplette Straßenschlacht ausgebrochen, aber Kassandra hatte nur Augen für den Werbespazierläufer. „Ich hasse die genauso wie der Nächste, aber haben wir grade nichts Besseres tun?“

„Ist doch die perfekte Gelegenheit oder nicht? Ist doch eh n Lochkopf“

„Was soll das denn heißen? Leichte Beute, oder wie?“

„Ja“

Er stand komplett geistesabwesend zwischen der brennenden Tankstelle und den Krawallen und bekam nichts dergleichen mit. Er trug eine Jacke, Conglomerate machte auch Mode, mit einer LED-Zeile auf dem Rücken mit dem Schriftzug: 13. Generation jetzt bestellen und die Epidemie besiegen! CONGLOMERATE INC. Die investierten viel Geld, um die LED-Jacken zum neuesten Trend zu machen. Vor allem waren sie billig. Die Schlaflosen lungerten sowieso nur auf der Straße rum, da konnte man die hergegebene Fläche auch zu Werbezwecken nutzen, dachte sich irgendso ein Kaputter irgendwann. Die Obdachlosen als Plakatwände. Die fatal Schlaflosen waren ja passend dafür, weil sie nicht so körperlich kaputt und abgewetzt wie die ursprünglichen Obdachlosen daherkamen. Sie waren ja schließlich erst wenige Wochen und Monate in diesem Zustand. Auch hier gilt wieder: Der eine sagt zynisch, der andere sagt progressiv. Eine solche Jacke kam mit einem Probemonat offizieller Schlafsoftware. Eigentlich Sozialhilfe. SUBvertiZe hatte sie sofort im Visier. Abruppen! Die Jacken waren ihnen abgezogen. Kurzerhand umprogrammiert, das war lächerlich einfach. Conglomerate haute da schon ne Sperre drauf, aber die war läppisch. Die Kosten sollten ja niedrig gehalten werden. Kassandra schubste den Lochkopf im Lauf zu Boden. Die waren ja meistens die kompletten Handtücher und fielen um wie nix. Auch kein Balancesinn mehr. Bevor die sich aufrappeln konnten und kapierten, was passiert war, war es schon zu spät. Sie machten sich nicht mal die Mühe zu flüchten. Sie suchten nur etwas Schutz hinter einem abgestellten Auto, sollte die Neo-SA sich aus dem Kessel befreien und die Straße runterstürmen. Sah aber eher nicht danach aus. Die zogen eher den Kürzeren. Kassandra holte ein tiefschwarzes dickes Kabel aus der Tasche. Frederick wunderte sich über die lichtschluckende Synthetiklegierung. Sowas hatte er noch nie gesehen. Sie steckte sich das Kabel abgebrüht in die Nase. Schon verwunderlich, ein simpler Computer hätte es auch getan, aber Kassandra machte schon bald alles über Nasenlink. Wenn man sich mal gewöhnt hatte… Ich hielt die Jacke. Der Schriftzug stockte kurz und wechselte dann. In tiefem lila wanderte jetzt in LED Buchstaben: Tierische Produkte aus Massentierhaltung. Hergestellt von Kindersklaven in der Volksrepukblik Taiwan. Conglomarate Inc.

       Plötzlich lief ein versprengter Neo-SAler zwischen den Autos hervor, wollte sich dasselbe Versteck suchen, auf der Flucht der Straßenschlacht. Er war schon angeschlagen. Aus der Nase kam Blut und sein Gesicht war mit Ruß bedeckt. Auf der Brust stand unter einem aggressiven Wappen: Rottenfüher Kowalski. Er hatte einen Holzlatte in der Hand und kuckte schockiert und ängstlich.

„Hey Kassandra!“, versuchte Frederick sie von ihrer Nasenlinkparalyse wachzurütteln.

„Nasenjunkies!“

Bei den Faschos war das wohl verpönt. Wunderte Frederick nicht wirklich.

„Wach auf! Wir müssen!“

Er fragte sich, was eigentlich passierte, wenn man den Stecker einfach rauszog. Konnte aber nicht besonders gut sein für den Verstand. Rottenführer Kowalski holte mit seinem Brett zum Schlag aus. Erst jetzt sah er den Nagel blitzen, der durch das Brett geschlagen wurde. Er raste auf seine Schläfe zu. Flucht gab es keine. Frederick sprang in den Schlag hinein und rammte den Neo-SAler von den Beinen. Man hörte den Schädel auf den Asphalt klopfen. Klang hohl. Schien ihn aber wenig zu stören. Er stieß Frederick von sich runter und da bekam er Verstärkung. Frederick wich zurück.

„Kassandra“ schrie er noch einmal. Sie musste jede Sekunde mit der Jacke fertig sein und wieder aufwachen. Selbst dann war das Aufwachen immer recht träge. Sie würde noch ein bis zwei Minuten etwas neben der Spur sein. Kowalski holte nochmal mit dem Brett aus und kniete sich dann runter zu Kassandra

„Bloß nicht!“, aber Kowalski zog den Stecker. Kassandra schlug die Augen auf. Die drei Neo-SA Kumpel waren schwer bewaffnet. Eisenketten, Springmesser, EMP Schocker. Frederick musste flüchten. Zwei von ihnen jagten ihm nach. Er rannte vorbei an der Tankstelle, versuchte sich zu orientieren und Richtung Stadtkern zu laufen, wo er den Kontakt treffen sollte. Aber das wurde schnell sehr irrelevant, als seine Verfolger aufholten. Er hörte schon die Eisenkette. Auch der EMP Schocker klickte aggressiv und metallisch. Nur hatte Frederick nichts Subkutanes mehr was da anfällig wäre. Ansonsten würde ihn selbst ein Hörgerät bei Beschuss von den Beinen holen. Er dankte der Regierung für die Lotterie und den Eingriff und nahm sich vor, bei nächsten Mal erstmals für die Regierungspartei zu stimmen, so dankbar war er. Er lief auf Blaulicht zu, das war kein gutes Zeichen. Plötzlich blieb er stehen. Man konnte es kaum sehen. Es war lichtschluckend schwarz und saugte jedes Flackern des Krawalls aus der Luft. Es sah aus wie ein Bus oder Laster. Auf dem Rücken war eine große Scheibe montiert, locker fünf Meter im Durchmesser, die genau auf ihn zeigte. Er wunderte sich, dass die Nazischläger sich noch nicht auf ihn gestürzt hatten. Er blickte sich um. Sie waren zehn Meter zuvor vor Angst stehengeblieben. Ehrfürchtig festgefroren, die hatten wohl eher schon Bekanntschaft mit dem Ding gemacht. Frederick sah sich um und plötzlich schlug eine Hitzewelle ein, als würde jemand einen Ofen vor seinem Gesicht öffnen. Er schrie vor Schmerzen und wunderte sich, dass seine Klamotten nicht direkt Feuer gefangen hatten. Ich sprang von der Straße, wie ein Hummer aus einem Topf, wenn man ihn lebendig kocht und krabbelte in eine Seitengasse.

 

  1. Zerstörte Träume

 

Ich wechselte zwischen Tee und der Pfeife. Irgendwie konnte ich den Geschmack der beiden immer weniger unterscheiden. Ich weiß gar nicht wie viel ich mir von beidem schon reingezogen habe. Oder wie lange ich schon hier bin. Die Schlaflosigkeit macht langsam aber sicher senil. Ich werde zum Lochkopf, das war von vorneherein absehbar. Ist man einmal geschädigt, hat der fehlerhafte Chip die Hirnchemie einmal zerstört, gibt es nur einen Krankheitsverlauf. Mentaler und Körperlicher Verfall. Selbstzerstörung auf molekularer Ebene. Ein letzter surrealer umnebelter rapider Lebensabend und der Tod. Die Raucher paffen wie eine arbeitende Dampfmaschine in die Luft. Wie ein Gemälde der Industriemalerei wirkt die Szenerie. Mein Blick ist verschwommen und ich sehe nur noch eine durchgängige dunkle Masse, einen massiven Motorblock von liegenden Menschen, von der Pfeife aufgerollt, aufgeraucht und in die Luft gepafft. Die Kaffeetrinker zittern vor sich hin. Einer verschüttet seinen Kaffee in eine konzentrische Pfütze, der Ober wischt es für ihn auf, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Er bringt mir in regelmäßigen Abständen Tee und Opiumpfeifen, oder was auch immer, Nachschub und redete mir gut zu. Wo bin ich hier? Und wie lange? Gerade, dass ich mich noch an mich selber erinnern konnte, aber mehr schon nicht. Ist das mein Zuhause? Einmal kommt einer der Kartenspieler rüber und fragt mich, ob ich mit einsteigen will. Ich frage ihn, wo wir uns hier nochmal befinden. Ich bin nicht ganz auf der Höhe. Er deutet auf ein Neonschild an der Wand. Das einzige elektrische Gerät, wie ich das beurteilen kann. INSO…? Ich kann es nicht mehr lesen, meine Augen sind zu müde. Er lässt mich in Ruhe. Langsam werde ich zu schwach noch nach Pfeife oder Tee zu greifen. Ich starre nur noch an die massive Holzdecke. Der Ober kommt wieder an. Langsam habe ich den Typen gern muss ich schon sagen. 

„Ich bringe ihnen noch einen Tee. Schwarz, Grün, Earl Grey, …?“

„Na wie immer halt. Sag mal bist du eigentlich real oder träume ich nur?“

„Sie träumen nicht soweit ich weiß. Sie können sich ruhig aufsitzen, wenn sie wollen“

„Hä wieso?“

„Das Programm schüttet die nötigen Chemikalien aus, um ihren Körper außerhalb der Zone zu paralysieren. Nicht mehr als während einem mittelmäßig intensiven Traum“

„Außerhalb der was?“, ich glaube ich kann dem Ober und seinem Gelaber nicht mehr folgen. Ich fühle mich ziemlich kalt und einsam und allein.

„Sie sollten aufhören über außerhalb nachzudenken. Einfach loslassen. Ich habe hier auch was für sie. Genau für diesen Zweck und genau für sie gemacht. Fühlen sie sich niedergeschlagen und kraftlos? Die ganze Welt bricht auf sie herein? Holen sie sich einen permanten E-Chip von Conglomerate. Der Subkutanchip, der die Emotionen reguliert.“

„Was?“

„Neu erhältlich im Conglomerate Store. 13. Generation oder höher erforderlich“

„Du bist überhaupt nicht der Ober!“

„Ich dachte mir nur, alles, nur nicht das. Nicht die Volkskrankheit Depression“, in fremdartig anderer Stimme.

Einer der vollbärtigen Kaffeetrinker springt jetzt hervor und schmeißt sich auf den Pseudo-Ober. Andere helfen dazu. Es gibt ein paar Schläge und Tritte und man befördert ihn Gewaltsam zur Tür hinaus. Sie gehen ohne große Diskussion zurück an ihre Plätze, als wäre gar nichts passiert.

„Was war das denn gerade?“, frage ich irritiert. Um geschockt zu sein bin ich zu müde. Alleine vom aufsetzen pocht mir das Herz.

„Ein Werbeagent. Nur Softwaremüll, mehr nicht. Aber sehr hartnäckig. Mich lassen die Dinger seit Wochen nicht schlafen. Ich war wach und mit dem Adrenalin der Situation kommen wieder die Erinnerungen hoch. Der InsomniaCs Raum, Meine Wohnkoje in der ich eigentlich gerade liege. Lochkopf, Melatoninjunkie. Ich versuche mich wieder zum Schlafen zu legen. Es hätte beinahe geklappt, verdammter Scheiß!

„Brauchste ehrlichgesagt gar nicht probieren. Die komm schon bald im Viertelstundentakt“

Ich drehe mich wütend um, ziehe noch mal aggressiv an der Pfeife. So nen Scheiß will ich nicht hören. Ich habe teuer Geld für die Software bezahlt. Noch ein Schluck vom Tee und der Stress flaut ab. Der im Schatten gelegene Menschenmotor sonderte Dampf aus dem Eck ab. Die Kartenspieler spielen wieder lustlos weiter. Ein Kaffeetrinker verschüttet vor lauter Zittern seinen Kaffee. Der Ober kommt wieder an.

„Ich hoffe sie kommen zurecht?“

„Naja wird schon“

„Noch einen Tee? Ich bringe ihnen noch einen Tee. Schwarz, Grün, …? Sie sollten aufhören über außerhalb nachzudenken. Einfach loslassen. Fühlen sie sich niedergeschlagen und kraftlos? Die ganze Welt bricht auf sie herein? Earl Grey? Oder kann ich sie für einen permanenten E-Chip von Conglomerate interessieren?“

Ich springe ihm wutentbrannt an die Gurgel und drücke mit aller Gewalt auf seinen Kehlkopf in der Absicht in zu zerquetschen. Die Schlaflosigkeit tut mir mehr weh, keine Gnade! Die anderen Gäste reagieren wenig. Nur einer der Kartenspieler verkippt seinen Kaffee, ganz unberührt von, was auch immer ich hier mache. Das InsomniaCs dreht sich im Kreis

 

  1. Smogalarm

 

Frederick kam hustend im Stadtkern an. Hier kreuzen sich alle Hauptverkehrsadern der Stadt. Früher war das eine Fußgängerzone, aber mittlerweile durften hier Autos und Mofas wieder fahren. Hier war Straßenbeleuchtung überflüssig, denn die Werbebanner strahlten heller. Am Tag kam die Sonne nicht durch den Smog, so dass hier immer eine halbhelles Zwielicht herrschte. Es war so lichtverschmutzt wie laut und die Mietpreise waren menschenverachtend. Hier ging die Tendenz allerdings eher Richtung weiträumige Lofts und Stadtvillen, anstatt Wohnsärgen und exponentieller Untervermietung wie in den äußeren Industriegürteln. Frederick kam hier selten vorbei, eigentlich hatte er sich mehr Straßenverkehr erwartet. Es lungerten nur die üblichen fatalen Schlaflosen herum. Vor einer geschlossenen Fast-Food-Filiale vertrieb sich ein Lochkopf die Zeit. Er fackelte abgestellten Elektronikmüll ab. Uralte zerbrochene Röhrenmonitore und eingestochene Lautsprecherboxen. Seit der Revolution in Zentralafrika, bei dem sich sieben Länder zu einer afrikanischen Supermacht zusammenschloss, konnte man dramatisch weniger Elektronikschrott exportieren und so blieb er jetzt bergeweise hier liegen. Er hatte noch zwei Lochköpfe im Schlepptau, die ohne Musik tanzten. Vielleicht hatten die auch Implantate. Aufjedenfall Augenringe bis zum Boden und blutjunge Teenager eigentlich.

„Was ist’n hier los sag mal?“, fragte Frederick. Er musste wohl oder übel an ihnen vorbei und konnte sich seine Frage nicht verkneifen. Lochköpfe sind eh harmlos.

„Hm?“, bemerkte ihn der Pyromane peripher.

„Wo sind denn…“

Plötzlich wurde er von einer Warnsirene überrascht. Zehn Sekunden beißender hoher Ton, Zehn Sekunden vibrierender tiefer Ton.

„Smogalarm“, meinte der Pyromane abwesend. Er nickte seinen Lochkopfkollegen zu und sie verschwanden in die Gasse neben dem vergitterten Fast-Food-Restaurant.

Er setzte seine Atemmaske in lichtschluckendem vanta-schwarz auf, die er für diese Situation immer dabeihatte. Da war heute Aktion und er war zu dusselig den Smogradar zu checken. Die Maske war zum Glück in seine Jacke eingenäht und ließ sich auf die Schnelle übers Ohr und übers Gesicht spannen. Treffpunkt war unter dem ehemaligen Neckermann Hauptquartier, heute ein Leerstand, seit sie in Conglomerate Inc. fusioniert wurden. Ein runder schwarzglatter Wolkenkratzer, der über Frederick im Smog verschwand. Sekündlich wurde die Smogdecke dicker und erstickte die ganze Stadt. Niemand, der es vermeiden konnte, war noch auf den Straßen. Er sah nach oben und durch das unendliche Grau knipste sich in diesem Moment das Sternenbild-Werbebanner an:

CONGLOMERATE INC.

       Nach zwei, drei verwinkelten Gassen und über einen Sperrzaun geklettert, fanden sie eine alte Hochhausruine. Nur wenige Meter Luftlinie hinter den Hauptplatzfassaden gab es noch diese Überbleibsel von früher, die den Sprung zu Neuinvestition und Sanierung nicht geschafft hatten. Frederick hatte dieses Eck noch nie gesehen. Kein Verkehrsmittel fuhr dort hin, keine Straßenschilder wiesen es aus. Im Dachgeschoss hatten der Kontakt und seine Leute ihre Technik aufgestellt. Dort hinter einem Meer aus Monitoren, Rechnern, Servertürmen, Kabeln und Kühleinheiten saß Fredericks Mann.

„Frederick! Und du?“ stellte er sich vor und schüttelte ihm die Hand. In jedem Eck lauerte einer seiner Leute und hörte aufmerksam zu. SUBvertiZe hatte schon früher mit der Gruppe zusammengearbeitet. Das waren allerdings Partner, die man lieber ein bisschen auf Abstand hielt. Der Kontakt verriet seinen Namen nicht.

„Wo ist denn Kassandra?“

„Weiß nicht genau. Wir wurden vorhin getrennt. Aber die kommt schon klar“, so sicher war sich Frederick da selbst nicht.

„Die Krawalle, ne? Jetzt wird’s aufjedenfall schlimmer bevors besser wird, das glaub ich. Hab ich dich schonmal gesehen?“

„Ja. Die Aktion mit den Tiervivisektionsvideos im Kinderkanal“

„Achja. Ihr seit schon ein komischer Haufen“, lachte er. „Und ist Vellocet schon zum Lochkopf geworden?“

„Tatsächlich nicht“

„Tatsächlich?“, lachte er wieder. „Naja der perforiert sich lieber andere Hirnareale denk ich mir. Und du?“

„Ne! Ich hab bei der Lotterie gewonnen“

„Im Ernst?“

„Ja“

„Und die haben dir den Subkutanchip echt entfernt?“

„Ja, ohne Scheiß“

„Na wer hätte das gedacht. Wann erwischt man die Regierung mal bei nicht lügen“, harter Themenwechsel, „haste das mit dem erschossenen Journalisten mitbekommen“, fragte er finster.

„Dumme Frage“

„Hast wohl Recht. Wir haben das geleakt“

„Ja?“

„Wir könnten schon noch Leute gebrauchen, jetzt wo’s richtig losgeht hier in der Stadt. Schon mal ne Waffe in der Hand gehabt?“

Frederick schüttelte den Kopf. Er wurde etwas nervös.

„Warum nicht? Das Culture-Jamming Zeug ist ja schön und gut, aber findest du nicht wir sind nen Schritt weiter?“, brachte er Frederick eine Weile zum Nachdenken.

„Finde ich nicht. Ich meine Werbung ist die Gegenrevolution. Alles was erreicht wurde, wurde durch Werbung wieder rückgängig gemacht. Auf radikale Ideen wird ein Preisschild geklebt Eingedampft, runtergedummt, zur Ware gemacht und zurückverkauft. Ausgehölt und die Kanten geglättet. Nur um ja niemanden zu irritieren oder zu stören. Alles muss ohne Anstrengung sofort zugänglich sein. Muss sofort billige Glücksgefühle abwerfen.“

„Aber eure Aktionen, sind die nicht auch irgendwo Werbung? Nur eben für die andere Seite?“

„Ne, bei uns ist kein Geld im Spiel. Purer Aktivismus ist das. Werbung ist das Gegenteil. Keinerlei Aktivismus, nur Geld und nichts anderes. Werbung verkauft immer Passivität. Conglomerate verkauft immer passives Konsumieren. Es hat nen Grund warum deren Technik immer eine Sperre hat. Es ist illegal diese zu umgehen und das Gerät mit allem zu nutzen was es kann. Es geht aber auch darum, wem die Stadt gehört. Werbung ist auch nicht demokratisch. Eine Meinung übertönt alle anderen. Es gibt nur noch eine Meinung, nur noch eine Attitüde, nur noch eine Sicht auf die Welt. Die Sicht von Conglomerate. Alle anderen Sichtweisen werden gewaltsam verdrängt. Es ist ein Gedankenknast, Gleichschaltung, die totale Mundtotmachung. Hierarchie in Reinform. Diktatur der Ästethik, des Spirits, des Zeitgeistes unserer Generation. Das schlimmste ist, was sie mit Künstlern machen. Sie machen sie zu Designern, lenken deren kreative Energie in die Bahnen vom Conglomerate-Mainstream. Wir sind alle im Spinnennetz geboren. Wir sind die Fliegen und Conglomerate ist die Spinne. Und mit den Inhalten hab ich noch gar nicht angefangen. Hemmungslose Selbstbefriedigung und Selbstverliebtheit, Ausblendung von allem Negativen. Die Ausbeutung von ganzen Ländern, das Zurückschrauben von allen errungenen Rechten hierzulande und überall, die Unwohnbarmachung des Drecksplaneten. Eine toxische postive Scheißwelt die man uns vorsetzt. Die glauben die haben das Recht dazu das öffentliche Bild so zu dominieren. Ich habe jedes Recht dazu die Stadt in der ich geboren bin ebenso zu gestalten. Werbung ist ungefragt und aufgezwungen“

„Die sollen sich verpissen seh ich auch so“, antwortet er kurz,  „Ok, kommen wir zur Sache, oder?“

Frederick nickte. Er hatte sich beinahe in rage geredet. Warum war eigentlich er in der Erklärungsnot? Die hantieren doch mit Waffen und Bomben, Entführung und Erpressung

„Kommen wir zur Sache“

„Ich klink mich gleich mal in die Zone und nehm mir die Satelliten vor“

„Das kannst du?“

„Kommt drauf an. Ihr habt eurer Partnerin das frisierte Programm gegeben, oder?“
„Ja klar. Sie benutzt es gerade, denke ich“

„Denkst du? Naja, bisher tut sich hier noch nichts“

„Du hast ihr doch die Brechersoftware draufgespielt, die ihr Adminrechte gibt?“

„Ähm ja, im Prinzip“, meinte er irritiert. Fredericks Wortwahl war wohl falsch. Er hatte von der Technik äußerst wenig Ahnung. Sonst hätte er die Aktion ja auch alleine durchziehen können.

„Die ist doch schon ne Weile fatal schlaflos, oder?“, fragte der Kontakt vorsichtig.

„Ja paar Wochen“

„Ganz ehrlich, glaubst du die hat das im Kreuz? Kriegt die das hin, oder ist die ausgebrannt“

„Ich weiß es ehrlichgesagt nicht“

„Okay okay. Ich schick ihr da noch was rüber“

„Du schickst ihr was?“

„Was Subtiles. Was sie an ihre Aufgabe erinnert. Die muss sich nicht mal genau im Klaren sein, was sie da genau tut. Sie muss es einfach nur tun, weisste? Suggestion, Determinismus, sowas“, sprach er in seine Zigarette rein und zündete sie an.

„Ähm ja“, ich verstand ihn schon. Auf eine Diskussion über den freien Willen war ich jetzt nicht aus. „Mach!“

„Ich bräuchte dann noch den Text, den ich machen soll“

Darüber hatte Frederick sich wochenlang den Kopf zerbrochen. Was hatte SUBvertiZe der Welt mitzuteilen? Also der ganzen Welt, denn jeder auf dem Planeten würde den verschandelten Schriftzug lesen. Frederick bat einen der Gestalten im Eck um Stift und Zettel und schrieb es dem Kontakt auf. Es war relativ komplex, weil man die Satelliten präzise umarrangieren musste. Man konnte nur mit dem arbeiten, was man hatte. Der Kontakt kuckte und versuchte es sich einzuprägen.

„Okay“, und weg war er.

Er presste mit Schwung das vanta-schwarze Kabel hinter seinem Ohr in den Schlitz. Zum ersten Mal sah Frederick live einen hinter dem Ohr verbauten Zugang in Aktion. Also nicht nur aus Filmen oder den Nachrichten. Das war die Spitzenklasse und außerdem nur was für Bekloppte. Jeder Fünfte hat danach eine Lähmungserscheinung. Wo genau ist relativ Zufall, soweit Frederick wusste. Er sah den Kontakt an und versuchte Hinweise darauf zu finden, ob er irgendwo gelähmt sein könnte. Was in dessen Kopf vorging konnte er sich nicht mal vorstellen. Als körperloses eindimensionales Lichtpünktchen raste man über abstrakte Verbindungslinien. Ein surrealer Raum, den sich kein einzelner Mensch je hätte ausdenken können, sondern die Synthese aus menschlicher, maschineller Schwarmintelligenz und der knallhartrealistischen mechanischen Architektur der Bauteile. Frederick war keiner der besonders an seinem fleischlichen Leben auf einem, den Bach runtergehenden, Planeten im Abwärts-Spiralarm der Milchstraße hing. Aber jedes Mal beim Einstecken einen Egotod zu sterben war ihm doch zu heftig. Der ultimative Bodyhorror war das, sich in eine Eins im Meer von Nullen atomisieren zu lassen. Sich roh in die Zone und ganz ohne Benutzeroberfläche einzuklinken war nur was für ganz Hartgesottene. Für Lebensmüde. Für Leute mit kaputter Kindheit, die absolut nix zu verlieren hat und eine unsterbliche Wut auf alles konventionelle und Althergebrachte hatten. Der Kontakt war tatsächlich gelähmt. Die ganze linke Seite vermutete Frederick. Das Bein war schlapp und befreit von jedem Muskel. Der linke Arm war durch eine grobschlächtige Prothese ersetzt. Wichtiger war da immer Geld für den Nervenstecker zu investieren. Da konnte man dann an einem ästhetischen Aussehen sparen. Es war eine halbwegs filigrane Hand mit drei Fingern an zwei schwarzen Stangen befestigt. Ein Kugellager als Ellenbogen, dass sich sicherlich in alle Richtungen drehen konnte. Darüber hing der schlabbrige Pullover. Er hatte immerhin mit dieser Hand eingesteckt, sonst wäre Frederick die Prothese gar nicht aufgefallen. Seine Augen zuckten wild unter den Lidern. Unter den Wimpern quoll Tränenflüssigkeit hervor. Seine Nase lief aus wie ein undichter Heizkörper. Plötzlich riss er die Augen auf. Hektisch griff er sich hinters Ohr und zog den Stecker. Frederick glotzte ihn nur nervös an.

„Und?“

Der Kontakt zündete sich erstmal eine Marlboro an. Zog dreimal hart auf Lunge.

„Kuck raus“, sagte er tonlos, als wäre gerade eine Gewehrkugel an seinem Kopf vorbeigepfiffen. Frederick kuckte aus dem Fenster und da stand es:

IGNORE THEM

Er hatte tatsächlich die Satelliten, welche die Punkte des Schriftzugs darstellten, im Orbit verschoben und zu dem neuen Slogan zusammengesetzt. Nur wenige Satelliten mussten sie für das Anagram ausschalten und so leuchete die Botschaft von SubVertiZe am Nachthimmel. Frederick hatte sich zuvor alle denkbaren Internet und Zonendomains der Parole gesichert, welche bald zum meistgesuchten Suchbegriff des Informationszeitalters werden wird. Die Websites und Räume waren gefühlt mit von Kassandra und Frederick recherchierten Schweinerein von Conglomerate Inc.

„Wahnsinn! Hat alles geklappt mit Remi?“

„Ja ging alles ganz schnell“

„Sie hat dir Zugang zu den Conglomerate-Servern beschafft?“

„Zum eiskalten beschissenen Herz! Immer gerne wieder.“

Frederick überlegte, wie er jetzt nach Hause kommen sollte, bei all dem Krawall in der ganzen Stadt. Vielleicht fand er noch ein altes Benzinmoped mit abgekratzten Nummerschildern am Straßenrand, hoffte er.

„Und mach nachher mal die Nachrichten an. Hab da noch ne Überraschung für dich“, rief ihm der Kontakt auf der Türschwelle noch hinterher.

„Hm?“

„Dürfte dir gefallen“, meinte er mit gewaltgeilem Lächeln.

 

  1. Softwaregore

 

Durch die Rauferei ist mir der Nasenstecker verrutscht. Der hat leider schon hier und da Wackler, obwohl der neu und sündhaft teuer ist. Erstmal bin ich nur verwirrt. Ich, in dem Wohnsarg. Ich will den Alptraum abschütteln. Wie lebendig begraben will ich weg- und davonphantasieren. Meine Gliedmaßen bewegen sich nicht richtig. Meine Arme schwer wie blei. Stimmt irgendwas nicht mit mir? Bin ich krank? Träume ich? Als ich die ranzigen Konservendosen im Eck entdecke, dämmert es mir. Der altbekannten Einöde. Der Geruch des InsomniaCs von sanftem Pfeifenqualm steht mir noch in der Nase. Ich kann die Beine nicht bewegen. Ich spüre ganz tief in mir wie ich beobachtet werde. Alle stehen sie um mich herum und verbreiten Hektik. Alles in mir schreit ich muss mich dem stellen. Ich sehe mich nervös um. Niemand da natürlich. Nur halbnasse Klamotten, die im Halbdunklen zum Trocknen aufgehängt sind. Die Silhouetten checke ich vier Mal, aber ich weiß was los ist. Ich hänge noch halb im InsomniaCs. Das Signalfeuer des Programms wurde in brutalem Software-Gore in der Hälfte zerteilt und schreit unmenschliche Schmerzensschreie. Die Realität kracht auf mich ein. Die Stadt, die Krawalle, Frederick und SUBvertiZe und… die Aktion! Bevor ich mit meiner Epiphanie fertig bin, kann ich meine Gliedmaßen wieder bewegen. Impulsartig stecke ich den Nasenstecker wieder richtig rein. Das Gefühl von aufwachen und einschlafen gleichzeitig. Ich liege wieder im InsomniaCs auf meiner Liege. Die Blicke der anderen wenden sich gelangweilt von mir ab, als ich mich umsehe.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragt mich der Ober.

„Ähm jaa… ich bin verwirrt“

„Das legt sich sicherlich schnell. Hier noch ein Tee für Sie“

Ich will ihn mir greifen, aber der Ober zieht ihn weg.

„Ähm?“

„Der ist nicht zum Trinken. Der kommt mit freundlichen Grüßen“

„Grüße von wem?“, aber er macht auf der Stelle kehrt und verschwindet wieder im Raum. Was zur Hölle tue ich hier eigentlich? Ich kucke mir den Tee an. Auf der Oberfläche bildet sich schon ein Film, wie bei abgestandenen schwarzen Tee. Als ich ihn anfasse ist er kalt. Irgendwie kann ich die Augen nicht von den braunen Flecken auf der Oberfläche nehmen. Sie hypnotisiert mich förmlich. Um mich rum wird es schwarz und ich verliere die Kraft auch nur zu blinzeln. Wie die Schlafparalyse, wieder zwischen zwei Welten, will der Teefilm mit mir kommunizieren, ich spüre es ganz deutlich. Ich füge mich, wieso auch nicht? Als die Oberflächenspannung mir die Botschaft übermittelt ist sie weniger in Schriftform. Vielmehr verformen sich die brauen Flecken auf den Oberflächen und scheinen aus der Tasse herauszuklettern. Es bildet sich in tanzendes Fraktal vor mir, vor meinem Bewusstsein, denn von Körper und Augen kann ich nicht sprechen. Ich werde aus meinem Körper herausgerupft und das Fraktal dockt telepathisch mit mir an. Das alles fühlt sich gar nicht unangenehm an. Man darf sich in so einer Situation nicht wehren. Und sich nicht wehren ist ne sichere Bank, wenn man seit Wochen nicht geschlafen hat. Die Hälfte der Zeit dämmere ich eh körperlos zwischen Realität und Träumen hin und her. Realität ist mir einfach nichts mehr wert, also halte ich mich nicht mehr daran fest. Das Fraktal wird von braun zu schrecklich bunt zu synästhetischem Geruchs/Geschmacks/Farben, in denen in einer Sub-Ebene die Botschaft mitschwingt. Es ist eine Mission, die ich hier im InsomniaCs zu erledigen habe. Und da ist auch der freundliche Gruß in Form eines warmen verliebten Gefühls in der Magengrube. Von Frederick. Ganz komischer Hacking-Voodoo aus dem smogverseuchten Stadtzentrum. Die Aktion war soweit erfolgreich, nur ich muss noch meinen Teil leisten. Ok mach ich. Das war alles schon im Vorhinein besprochen, aber ich werde senil. Ich kann mir nichts mehr merken. Ich muss endlich bitte schlafen, oder ich geh ganz schnell kaputt.

Ich greife mir die Pfeife, aber diesmal nicht um mich pseudo-KO zu machen. Der Werbeagent ist noch da und unterhält sich mit den Rauchern, die im hinteren Eck in Stockbettenaufgereiht sind. Das schnaubende, schlafende Industriemonstrum von vorhin. Die Opiumesser lassen es sich über sich ergehen. Sie blenden es aus. Das sind auch ganz harte Endstadiumlochköpfe. Die haben andere Probleme und auch nicht mehr die Muskelmasse für nen saftigen Faustschlag. Ich hock mich dazu. Der Werbeagent freut sich, dass ich nun doch Interesse zeige. Ich verziehe keine Miene und bevor er mich wieder volllabern kann mache ich kurzen Prozesse. Noch eines hat mir das Teefraktal erzählt. Ich habe neue Fähigkeiten hier in der Zone, hier im InsomniaCs-Raum. Ich muss sie nur ausprobieren.

Ich kneife ein Auge zu, um mein dreidimensionales Sehvermögen zu verlieren. Ich strecke den Daumen vor mir aus, sodass ich den Werbeagenten damit verdecke. Er gafft nur irritiert. Sein Kopf verschwindet hinter meinem Daumen. Ich lasse das Auge zu und gehe einen schritt vorwärts und konzentriere mich dabei fest auf meinen Daumen und versuche den Werbeagenten auszublenden, ihm keinen Interpretationsraum zu lassen. Ich reiße die Macht der Definition über die Szene an mich und breche mit dem physikalischen Konsens der Zone. Mit Zugriffsrechten geht alles. Der Werbeagent war in der Hierarchie der Prozesse im Arbeitsspeicher des virtuellen Raums ziemlich weit unten. Mein Daumen berührt ihn schließlich, bedeckt unwirklich sein ganzes Gesicht, drückt seine perfekte Frisur kaputt. Nun nehme ich den Zeigefinger und umschließe damit seinen Hinterkopf. Mit einem ordinären Ploppen löse ich seinen Schädel aus dem Genick und halte ihn vor mich hin. Mit Glupschaugen gafft er mich ratlos an. Seine Birne fühlt sich zwischen meinen Finger wie Radiergummi an. Ich fange an zu quetschen und zu kneten. Die Gesichtspartien verschieben und verzerren sich. Der Werbeagent gibt keine Gefühlsregungen von sich, sondern sieht sich nur verwundert um. Mit der linken Hand greife ich jetzt zur Pfeife. Ich knete den Schädel weiter bis er zu Zerbröseln beginnt. Ich zerstückele den Agenten sorgsam in den Pfeifenkopf. Ich mach das zweite Auge wieder auf. Sein kopfloser Körper ist hintenübergekippt. Die Lochköpfe kucken halbwegs schockiert zu.

„Hat mal jemand Feuer?“, frage ich nachdem ich meine Taschen vergeblich nach meinen Streichhölzern abtaste. Der am meisten Abgemagerte von allen gibt mir mit einem Grinsen seine. Aus dem Pfeifenkopf heraus werde ich von unparallelen Augen hilflos und kleinlaut angegluptscht. Die Pfeife stecke ich in den Mund, mach mir drei Streichhölzer auf einmal an, zünde den Kopf an und nehme einen tiefen Gewaltzug. Das ist es! Es törnt wie Sau, sofort kann ich die Müdigkeit spüren. Unterbewusst tut sich was, was ich nicht auseinanderdefinieren kann. Ich weiß nur ich habe meine Mission erfüllt, ich habe Zugang, mich durchläuft Information, ausgehend. Den Glupschaugen kommen die Tränen, als sie sich in Glut und Asche auflösen.

 

  1. Femme Fatale

 

„Cyberterroristen lassen Satelliten auf Conglomerate Inc. Hauptquartier abstürzen! Suche nach Überlebenden läuft! Polizei bittet um Hinweise auf die Drahtzieher!“, titelte es auf allen Kanälen. Das war in der Tat überraschend. Frederick dachte an Überwachung, Abhörmaßnahmen, Flucht, internationale Fahndung, Interpol, Spezialeinheiten mit Rammböcken, Verhörräume, herausgeprügelte Geständnisse. Darüber musste er sich morgen den Kopf zerbrechen. Nach der Aktion war er viel zu müde. Sein Körper machte schlapp.

Nach langem Fußmarsch, zurück in seinen Megakomplex, war er endlich zuhause. Es hatte ihn noch abgeregnet und er fror. Der kommende Muskelkater würde ihn die ganze nächste Woche flachlegen und im Wohsarg konnte man kaum die Beine ausstrecken. Als er durch den Haupteingang in den Wohnkomplex kam freute er sich über die heimische stickige Luft. Den Geruch von Schweiß, Müll und angebratenem, fettigem Essen. Nicht, dass diese Kombination besonders angenehm roch, aber es ging für ihn halbwegs in Richtung Sicherheit und Geborgenheit. Wie sollte die Staatsgewalt ihn hier schon finden. Hier lief alles unter der Hand, alles Grauzone und alles per Handschlag. Keine Kameras und die Polizei traute sich gar nicht hinein. Nicht, wenn sie nicht in Armeestärke anrückten. Die Gänge ins Innere des Baus waren eng und verschlungen und schwitzen und atmeten förmlich. Wie im Inneren eines riesigen Tiers mit Mundgeruch. Eigentlich sollte die „Straße“, auf der er sich befand nach oben offen sein, aber nur durch kleine Ritzen konnte man den Nachthimmel noch sehen. Durch die Gitter und Drahtverhaue und Betonwände tropfte noch der Regen von vor zwei Stunden hindurch und spülte den Dreck nach unten. Mit offenen Augen nach oben sehen war gefährlich. Richtig gesundheitsschädlich mitunter. Die ersten Leute grüßten ihn am Gang. Sein Zahnarzt, die Jungs und Mädels aus der Wäscherei. Auch hier entkam man den Neuigkeiten nicht. Aus jedem Monitor flogen einem die Worte Terrorismus, Cyber-Kriegsführung, heftige Unruhen, bewaffnete Auseinandersetzungen entgegen. Im großen zentralen Innenhof wurden alle möglichen Waffen zusammengetragen. Schon gruslig dachte sich Frederick. Wo war er da wieder reingezogen worden. Er sprang mit letzter Kraft noch zwei Stockwerke die Treppen hoch, bog noch viermal ab in immer enger werdende Gassen.

Das letzte Stück zu Remis und seiner Wohneinheit war zu eng, dass er sich seitwärts durchdrücken musste. Bevor er die Tür aufschob, horchte er nochmal. Nichts. Auch kein Licht, dass man durch die Ritzen gesehen hätte. Es roch allerdings leicht nach Rauch, was Frederick beunruhigte. Schnell schob er geräuschlos die Tür seitwärts auf. Er entspannte sich. Der Rauch kam lediglich von einer ausgebrannten Kerze. Der rote Schein der Sparlampen aus dem Gang schien leicht in den Wohnsarg. Da lag sie. Remi hatte noch den Nasenstecker drinnen, ansonsten lag sie reglos da. Frederick sah, dass der angeschlossene PC im Bildschirmschoner war. Das hieß das Programm hatte sich abgeschalten. Er konnte den Nasenstecker problemlos ziehen. Es passierte nichts weiter. Remi atmete tief und schwer. Frederick konnte sich die Freude nicht verkneifen. Sie schlief! Er schlüpfte aus seinen durchnässten Klamotten, warf sie auf die Pritsche über ihrem Bett. Als er die Tür zuschieben wollte, sah er Kassandra auf dem kleinen Gang stehen. Sie rauchte, nickte ihm kurz gönnerisch zu, drückte sich aber weiter, als ob sie bei der Generalmobilmachung des Komplexes dabei sein wollte. Frederick wollte ihr noch hinterher oder zumindest etwas sagen, aber die Kraft verließ ihn. Er hatte auch ein dumpfes Gefühl die Realität verließ ihn wieder, war sich aber nicht sicher. Sein Körper war noch immer ausgemergelt von seiner Zeit als Lochkopf. Er schob die Tür zu. Nur noch der Schein des Bildschrimschoners, die generativ zufällig generierten Fraktale erleuchteten den Wohnsarg. Im Stockdunklen konnte Frederick sowieso nicht schlafen. Ganz alte Angewohnheit. Er legte sich zu Remi und fiel in einen langen und tiefen Schlaf.

Veröffentlicht am 17.04.2022