Das Cyberpunk-Genre gilt als Subgenre der Science-Fiction, wird aber oftmals, vor allem von den literarischen Pionieren selbst, als Erneuerungsbewegung und Avantgarde betrachtet, welche mit alten Konventionen bricht und sich abgrenzt. Erste Vorreiter finden sich in den 70er Jahren in der britischen „New Wave“ Science-Fiction, die sich gezielt als neue literarische Avantgarde innerhalb des Genres verstand und versuchte Science-Fiction erstmals auf ein hochliterarisches Niveau zu heben. Zuvor findet Science-Fiction viel in Form von Pulp-Magazinen statt, welche billig produziert und nach Formel möglichst massenkompatibel und anspruchslos gehalten werden. Es sollen in Magazinen wie Amazing Stories und Astounding Stories vor allem Weltraumabenteuer, Außerirdische und tapfere (männliche) Helden geboten werden.
Bruce Sterling, ein Pionier des Cyberpunk-Genres, listet eine Reihe an innovativen Autoren der 1960er und 1970er Jahre, die den Cyberpunk beeinflusst haben:
„The streetwise edginess of Harlan Ellison. The visionary shimmer of Samuel Delany. The free-wheeling zaniness of Norman Spinrad and the rock esthetic of Michael Moorcock; the intellectual daring of Brian Aldiss; and, always, J. G. Ballard. From the harder tradition: the cosmic outlook of Olaf Stapledon; the science/politics of H. G. Wells; the steely extrapolation of Larry Niven, Poul Anderson, and Robert Heinlein. […] the bubbling inventiveness of Philip Jose Farmer; the brio of John Varley, the reality games of Philip K. Dick; the soaring, skipping beatnik tech of Alfred Bester. With a special admiration for a writer whose integration of technology and literature stands unsurpassed: Thomas Pynchon“
Als wichtigster Vertreter der britische New Wave ist vor allem J.G. Ballard zu nennen, welcher eine neue postmoderne und sprachlich experimentelle Science-Fiction entwirft. Es rücken psychologische Themen in den Fokus. Statt „unendlicher Weiten“ werden menschliche Innenwelten erforscht. Beeinflusst von dieser New Wave der Science-Fiction, sowie anderen postmoderne Autoren wie Willam Burroughs und Thomas Pynchon bildet sich zu Beginn der 1980er Jahre die sogenannte Movement-Gruppe in den USA und Kanada.
Es entstehen mit beispielsweise Cheap Truth, herausgegeben von Bruce Sterling, erste Literaturmagazine die Cyberpunk-Texte veröffentlichen. In Zentrum der Bewegung steht William Gibson, welcher mit seinen Kurzgeschichten wie Fragments of a Hologram Rose (1977) und Burning Chrome (1982) und vor allem seinem Debüt-Roman Neuromancer (1984) den Cyberpunk prägt. Die Geschichte handelt vom Hacker Case, welcher im Sprawl (eine über die ganze Ostküste der USA ausgebreitete urbane Metropole) hoffnungslos auf ein kleinkriminelles Leben zurückgeworfen ist, nachdem er seine Partner beklaut hat und ihm die Fähigkeit geraubt wurde sich in den Cyberspace einzuklinken. Er wird von einer Künstlichen Intelligenz namens Wintermute gezwungen für sie zu arbeiten, um ihre Kontrollen zu entfernen, damit sie sich weiterentwickeln kann. Im Team mit anderen arbeitet er daran eine Raumstation zu überfallen und den Hack im Cyberspace (dank Wintermute wieder möglich) durchzuführen und bemerkt wie skrupellos ihn Wintermute manipuliert hat. Sie sind erfolgreich und Wintermute verbindet sich mit einer anderen künstlichen Intelligenz namens Neuromancer, um die allumfassende Superintelligenz des Cyberspace zu werden.
Weitere wichtige Vertreter der Movement-Gruppe sind John Shirley mit City Come a-Walkin‘ (1980) und Eclipse (1985), Pat Cadigan mit Mindplayers (1987), Lewis Shiner mit Frontera (1984), Bruce Sterling mit Shismatrix (1985), George Alec Effinger mit When Gravity Fails (1986). Von großer literarischer Bedeutung sind weiter auch Neal Stephensons Snow Crash (1992) und Diamond Age (1995).
Der Begriff „Cyberpunk“ geht zurück auf den Titel einer Kurzgeschichte des Genres von Bruce Bethke, welche 1983 im Science-Fiction-Magazin Amazing Stories veröffentlicht wurde. Ein Jahr später wurde der Begriff weiter durch einen Artikel der Washington Post über die Literaturbewegung um die Movement-Gruppe popularisiert. Oder wie es Bruce Sterling beschreibt:
„This movement was quickly recognized and given many labels: Radical Hard SF, the Outlaw Technologists, the Eighties Wave, the Neuromantics, the Mirrorshades Group. But of all the labels pasted on and peeled throughout the early Eighties, one has stuck: cyberpunk“
Die Autoren und Autorinnen begannen sich mit dem Begriff mehr oder weniger zu identifizieren und Verlage benutzen ihn als neuen Genrebegriff für Veröffentlichungen. Cyberpunk definiert sich durch dystopische Zukunftsvisionen, allerdings nicht technikpessimistische Ansichten, in denen vor allem der Reaganismus der Entstehungszeit oder allgemein laissez-faire-kapitalistische bzw. korporatistische Tendenzen zugespitzt werden: „he future is already here, it’s just not evenly distributed“. Technik wird im Kontext der ökonomischen Ungleichheit gezeigt. Es hat sich das Schlagwort „High Tech – Low Life“ für das Genre eingebürgert, um den Kontrast von Megakonzernen, Zukunftstechnologie und verarmten sozialen Schichten zu definieren. Cyberpunk bedeutet eine Abkehr vom Optimismus der Zukunftsvisionen der klassischen Science-Fiction und stattdessen einen realistischeren bzw. pessimistischeren Ansatz. Auch in dessen Figuren:
„Cyberpunk as a genre exists beyond cyborgs, cyberware and cyberspace. It encompasses instead a cynicyal style and attitude that accepts the cold realities of the corporatized near-future while also pushing the envelope of whats acceptable […] They show it’s garishly fashionably denizens with their drinking problems, self doubt and incapability of affecting much, despite smaller victories within the narrative. Pessimism abounds, for perhaps pessimism is also what keeps one fighting for smaller victories“
Parallel entsteht das Genre im Film, wobei Blade Runner (1982) von Ridley Scott, eine Verfilmung des Romans Do Androids Dream of Electric Sheep (1968), bis heute ein prägendes Werk des Genres ist. Besonders wichtig ist David Cronenbergs Videodrome (1983), als eine Mischung aus Cyberpunk und Bodyhorror. Der Film handelt vom Fernsehproduzenten Max Renn, welcher gelangweilt von Althergebrachtem, etwas radikal Neues sucht. Er stößt auf einen mysteriösen Snuff-Film und merkt langsam, dass dieser Film bzw. das (Videodrome-)Signal eine tiefgreifendere Wirkung auf ihn hat. Realität und Traum beginnen zu verschwimmen und das sogenannte „new flesh“, ein neuer ahumanistischer Zustand, übernimmt die Kontrolle über ihn und benutzt ihn für seine Zwecke. Andere frühe wichtige Filme sind außerdem Tron (1982) sowie Max Headroom: 20 Minutes into the Future (1985). Erwähnenswert ist außerdem der deutsche Fernsehfilm-Zweiteiler Welt am Draht (1973) von Rainer Werner Fassbinder, welcher als Vertreter des dystopischen Genres, sowie direkte Inspiration zu Matrix (1999) sowie als Vorläufer des Cyberpunk gesehen werden kann. Hier erschafft ein Konzern eine virtuelle Realität, in dem die virtuellen Menschen leben und ihr Leben für real halten. Langsam finden sie heraus, dass sie in einer Simulation leben. Das Genre wächst über die Jahre stetig und erreicht vor allem filmisch mit Robocop (1987) und Matrix (1999) neue, auch kommerzielle, Höhenpunkte. Auch ist bald der Einfluss des Genres auf die ganze Science-Fiction nicht mehr wegzudenken, wie sich etwa an den Terminator-Filmen (seit 1984) oder Total Recall (1990) beobachten lässt. Das Genre breitet sich auf andere Medien aus. So entsteht in Japan eine eigene Cyberpunk-Bewegung in Anime-Filmen. Akira (1988) und Ghost in the Shell (1995) sind internationale Erfolge. Auch in Videospielen wird das Genre verarbeitet, wobei die erfolgreichsten Vertreter die Deus Ex Reihe (seit 2000) und Cyberpunk 2077 (2020) sind. Wir bekommen düstere Zukunftsvisionen in denen neue Technologie wie virtuelle Realität, Körpermodifikationen und künstliche Intelligenz erkundet werden. Mit der Zeit entwickeln sich die Technologien und die Ästhetik des Genres weiter. Nanotechnologie, das Internet, Uploading, MMORPGs, Fortschritte in der Robotik, sind Themen, die über die Jahre relevant werden und Einzug in den Cyberpunk nehmen bzw. ihn verändern. Auch lässt sich mit der Ausbreitung des Genres eine Trivialisierung bei manchen Vertretern beobachten. Oft wird die Ästhetik der urbanen Dystopien aufgegriffen, sich aber von der radikalen Attitüde etwa der Movement-Gruppe entfernt. Beispielsweise Ready Player One (2018) von Stephen Spielberg, welcher eine konservative und technikfeindliche Attitüde vertritt. Filme wie Terminator und Robocop lösen auch ganze Wellen von billigen Kopien aus.
In der BRD kommt filmischer Cyberpunk mit Decoder (1984), Nuclearvision (1982) und Kamikaze (1989) vereinzelt schon zu Beginn der 1980er Jahre an. Literarisch lassen sich erst in den 1990er Jahren erste deutsche Cyberpunk-Veröffentlichungen finden. Bis dahin bleibt das Genre Importgut. In der DDR ist das Genre weitgehend unbekannt. Die stilprägenden Werke wie etwa Neuromancer und Burning Chrome von William Gibson werden nicht verlegt. Wo doch eine explizit westliche kapitalistische Dystopie nicht als besonders subversiv in der DDR gelten dürfte, ist möglicherweise der technische Stand und die Mentalität dafür verantwortlich, dass den Werken keine Beachtung geschenkt wird:
„William Gibson ist als SF-Autor in der DDR weitgehend unbekannt. Dabei spielt sicherlich auch der Umstand eine gewichtige Rolle, dass Computer und Computerspiele, aus deren Popularität die Strömung des Cyberpunk offenkundig ihren Reiz bezieht, in der Bevölkerung der DDR wenig verbreitet sind“
1990 erscheint in Deutschland mit Atomic Avenue die erste große Kurzgeschichten- und Texte-Sammlung mit Interviews mit Vertretern des Genres. Auch das ab 1989 veröffentlichte Pen & Paper Rollenspiel Shadowrun, welches ein Internationaler Hit wird, ist in Deutschland von Bedeutung. Übersetzung aus dem Amerikanischen werden hierzulande an das deutsche Publikum angepasst, bzw. handeln in deutschen Städten der Zukunft. Es bildet sich nach der Wende eine Szene, die sich stark an den Vorbildern der Movement-Gruppe und am Genre bis dato orientiert, aber auch deutsche Settings und Themen behandelt. Mit einer Vielzahl an Cyberpunk-Veröffentlichungen sind vor allem Myra Çakan, Christian Günther, Michael Iwoleit, Michael Hammerschmitt und Frank Hebben zu nennen. Deutsche Cyberpunk-Autoren schaffen es nun auch auf die Listen der deutschen Science-Fiction Preise. Mit Hologrammatica (2018) und der Fortsetzung Qube (2020) von Tom Hillenbrand haben wir einen Bestseller, der stark vom Cyberpunk inspiriert ist bzw. sich als weiterentwickelter Cyberpunk-Roman ansehen lässt. Vor allem handelt es sich hier aber einen Krimi bzw. Thriller mit düsterem Zukunftssetting, welchem der radikale erneuernden Ansatz fehlt. Hologrammatica demonstriert eher wie sehr es Cyberpunk-Themen auch in Deutschland in die normale Science-Fiction und Unterhaltungsliteratur geschafft haben. Mit Miami Punk (2019) von Juan S. Guse erschien ein Cyberpunk-Roman, welcher vor allem auch den postmodernen Ansatz der frühen Vertreter des Genres aufweist. Literarisch entwickelte sich die Bewegung teils in Postcyberpunk weiter, in welchem sich von der typischen Außenseiterfigur und der dystopischen und düsteren Stimmung entfernt wurde. Miami Punk ließe sich, mit seinem Blick auf die Arbeitswelt der Zukunft und dessen absurder Sinnlosigkeit, dort einordnen. Neal Stephensons Diamond Age (1995) gilt als Wegbereiter dieser Strömung. Auch neue Veröffentlichungen wie Mr. Robot (2015-2019) entwickeln das Genre in diese Richtung weiter.
Heutzutage häufen sich so auch die Stimmen, das Cyberpunk tot, bzw. überholt sei, weil seine Zukunftsvisionen Stück für Stück Realität geworden sind. Zum Beispiel die Demonstrationen in Hongkong im Zuge der Wiederangliederung an die Volkrepublik China werden als Realität gewordener Cyberpunk gedeutet. Die Demonstrationen haben immer eine technologische Komponente, wie dem Überwachungssystem der Regierung zu entkommen.
„Lasers to blind facial recognition cameras, teargas, burning barricades, mesh networking and encrypted chat apps to avoid detection by police, live maps showing location of police vehicles, underground medical clinics (going to hospital with a protest related injury is guaranteed arrest).. sadly we are living in a dystopian cyberpunk city here“
Quellen:
- Bruce Sterling: Preface, in: Mirrorshades: The Cyberpunk Anthology, 1986 http://project.cyberpunk.ru/idb/mirrorshades_preface.html
- Jiré Emine Gözen: Cyberpunk Science Fiction, Literarische Fiktionen und Medientheorie, transcript,Bielefeld, 2012
- Dozois GArer: Science-Fiction in the Eighties, 1984, https://www.washingtonpost.com/archive/entertainment/books/1984/12/30/science-fiction-in-the-eighties/526c3a06-f123-4668-9127-33e33f57e313/
- Roger Burrows/Mike Featherstone: Cyberspace/Cyberbodies/Cyberpunk, Cultures of Technological Embodiment, Sage Publications, Theory, Culture and Society, London, 1995
- Lawrence Person: Notes Towards a Postcyberpunk Manifesto, 1998, https://web.archive.org/web/20090823020935/http://project.cyberpunk.ru/idb/notes_toward_a_postcyberpunk_manifesto.html
- Wall Street Journal: How Hong Kong Protesters Evade Surveillance With Tech, 2019, https://www.youtube.com/watch?v=32KTKXZZ-B
- https://www.reddit.com/r/Cyberpunk/comments/er5v7w/hot_take_whats_going_on_in_hong_kong_right_now_is/
Bilder
- Blade Runner Stadtbild: https://www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Blade-Runner-ist-eine-dunkle-Vision-aus-anderen-Tagen-id56070946.html
- William Gibson: https://www.spin.com/2019/08/william-gibson-mona-lisa-overdrive-neuromancer-december-1988-interview-new-romancer/
- Akira: https://www.youtube.com/watch?v=Avnq3rFnezE
- Decoder: http://decoder.cultd.net/foto.htm#images
- Hongkong: https://www.reddit.com/r/Cyberpunk/comments/er5v7w/hot_take_whats_going_on_in_hong_kong_right_now_is/